Jeden Montag bekomme ich von meinem Bruder die gleiche What’sApp. Darin wünscht er mir und meinem Freund eine tolle Woche. Immer der gleiche Text, die gleichen Emojis hintendran. Immer neu eingetippt. Ebenso am Freitag. In seinem Freitags-Gruß freut sich Björn darüber, dass die Arbeitswoche fast vorbei ist und wünscht uns ein ganz tolles Wochenende. Immer wortgenau auf die gleiche Weise. Aber immer neu geschrieben. Unsere Mutter findet jeden Morgen auf dem Küchentisch eine kleine handschriftliche Nachricht von Björn – die er stets neu verfasst, auch wenn sich an dem Text nichts verändert. Jeden Vormittag ruft er sie in seiner Frühstückspause an, um ihr zu sagen, dass er gut auf seiner Arbeitsstelle angekommen ist… Wir wünschen uns oft, dass er ein bisschen abwechslungsreicher wäre, aber wenn wir mal nichts von ihm hören, machen wir uns sofort Sorgen. Also ist es wohl gut so, wie es ist.
Ein besonderes Leben
Es ist ja schon großartig, dass Björn überhaupt schreiben kann. Dass er Arbeit hat und dass er selbstständig mit Rad und Straßenbahn dahin fahren kann. Mein Bruder lebt mit einer geistigen Behinderung. Kurz nach seiner Geburt habe ich ihn als damals Siebenjährige völlig verkrampft und knallrot in seinem Babykörbchen vorgefunden. Er hatte einen epileptischen Anfall. Das Bild habe ich heute noch im Kopf. Björn kam sofort ins Krankenhaus und lag dort drei Tage im Koma. Keiner wusste, ob er es schaffen würde. Das war wohl der Auslöser für seine Behinderung. Die Ärzte haben meiner Mutter später gesagt, dass er nie eine Schule besuchen wird. Er hat ihnen das Gegenteil bewiesen.
Nach mehreren Anläufen kam Björn mit neun Jahren auf die Sonderschule, hat diese auch abgeschlossen und ist danach zum Gartenfachwerker ausgebildet worden. Er war seither fast durchgängig in diversen Jobs beschäftigt – und das in einer Region mit ziemlich hoher Arbeitslosigkeit. Unsere Mutter hat ihn immer gefördert und immer für ihn gekämpft. Sie hat sich sogar mal an den Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt gewandt, damit Björn wieder Arbeit bekommt. Und war erfolgreich damit. Zur Zeit arbeitet er als Hausmeister-Assistent an einer berufsbildenden Einrichtung.
Es dauert seine Zeit, bis Björn etwas begreift. Aber wenn er einmal eine neue Aufgabe erlernt und diese zur Routine entwickelt hat, kann man sich blind auf ihn verlassen. Deshalb ist er bei seinen Kollegen und Vorgesetzten auch immer sehr beliebt. Er erledigt seine Arbeit gewissenhaft, auch wenn sie ihm den Rücken zudrehen. Monotone Aufgaben stören ihn nicht. Im Gegenteil.
Nur keine Überraschungen
Björn mag keine Überraschungen. Alles, was ihn aus seinem immergleichen Tagesrhythmus bringt, stresst ihn. Er ist der unflexibelste Mensch, den ich kenne. Seine Wochenenden sind ihm heilig und genau durchgetaktet mit Hausarbeit, Mahlzeiten, Sport, Mittagsschlaf, Fernsehprogramm. Wenn wir mit ihm verreisen wollen, müssen wir ihn lange im Voraus darauf vorbereiten, damit er sich mental darauf einstellen kann. Er freut sich, wenn ich zu Besuch nach Hause komme, aber er will deshalb nicht seine Lieblingsserien verpassen. Wenn ich ihn zu einem Ausflug überreden kann, muss ich dafür sorgen, dass er trotzdem um 14:30 Uhr einen Kaffee bekommt. Sonst verderbe ich ihm den Spaß daran. Und mir damit auch.
Das hat viele Vorteile. Björn ist durch und durch berechenbar. Aber manchmal kippt dieses Verhaftetsein an Gewohntem in Trägheit um. Dann wird er bequem, isst zu viel, bewegt sich weniger. Wenn Björn zunimmt, ist er weniger konzentriert und aufnahmefähig. Das will ich nicht verallgemeinern, aber bei ihm ist das so. Und es ist dann ein langer Prozess, bei ihm den Schalter wieder umzulegen.
Björns 15 Minuten Ruhm…
Sich durch nichts und niemanden von seinen Routinen abhalten zu lassen, kann auch gefährlich werden: Letztes Jahr ist Björn in aller Seelenruhe durch eine Polizeiabsperrung geradelt, die unerwartet seinen Nachhauseweg blockiert hat. Er hat die 50 Einsatzkräfte ignoriert, die in Schutzanzügen (!) 140 Kilo mutmaßlichen Giftstoff entsorgt haben, der dort illegal abgeladen wurde. Mein Bruder ist einfach durch das weiße Pulver gefahren. Die Polizei war fassungslos. Daraufhin mussten er und sein Fahrrad dekontaminiert werden. Das stand am nächsten Tag sogar in der Zeitung.
Trotzdem sind die Gewohnheiten wichtig. Sie schenken Björn Kraft und Ruhe. Sie sind sein Anker. Geben ihm Halt und Sicherheit. Die Routinen sind derart verinnerlicht, dass er keine ermüdenden Entscheidungen treffen muss. Der gewohnte Gang macht ihn zufrieden, geerdet. Ich glaube, er ist ein glücklicher Mensch.
Magie beginnt außerhalb der Komfortzone
Aber Entwicklung passiert außerhalb der Komfortzone. Wenn wir uns auf fremdes Terrain begeben, unseren Horizont erweitern, etwas Neues lernen müssen oder wollen. Durch einen Jobwechsel, neue Ziele, neue Aufgaben, die auch irgendwann in Fleisch und Blut übergehen. Nur so ist Björn zu dem geworden, der er heute ist: Ein selbstbewusster, starker Mann. Meistens jedenfalls. Wir würden ihn nicht alleine wohnen lassen, aber er kann durchaus ein paar Tage ganz selbstständig zurecht kommen. Wer hätte das früher gedacht? Ich bin unglaublich stolz auf ihn.