MEINE FAMILIE

HeimatLiebe

Meine Oma Christa hatte den Spitznamen „Der General“ in unserer Familie, weil sie so dominant war und meinen Opa Klaus herumkommandiert hat. Es herrschte tagsüber oft ein rauer Ton zwischen den beiden. Aber wenn ich sie abends in ihrer Hälfte unseres Hauses besucht habe, saßen sie immer Hand in Hand nebeneinander in ihren Sesseln und haben zusammen gelesen oder ferngesehen. Das stand für mich stets sinnbildlich für ihre enge Beziehung.

Sie haben die gemeinsamen Abende in ihrem schönen, großen Haus, das sie sich selbst erbaut hatten, genossen. Die Zeit zu zweit – mit ihren Kindern und Enkeln direkt nebenan. Mir hat es damals ein bisschen die Luft abgeschnürt, dass die ganze Familie unter einem Dach gelebt hat, aber für meine Großeltern war es genau richtig. Und rückblickend war es auch eine sehr schöne Zeit.

Mit Omi und Opi auf unserem Hof

Bilderbuch-Großeltern

Meine Großeltern waren immer stolz auf uns. Vor allem auch über die Entwicklung von meinem Bruder Björn, der aufgrund seiner Behinderung besondere Förderung brauchte. Meine Oma hat mit ihm so oft Lesen geübt, dass er heute noch davon erzählt, wie ihm damals der Kopf geraucht hat, weil sie nicht locker ließ. Sie haben ihm viel über Landwirtschaft, Pflanzen und Tiere beigebracht. Mich hatte das Landleben nicht so interessiert, aber Björn weiß das alles immer noch. Mein Opa war Schäfer. Er wollte 120 Jahre alt werden und aus Björn auch einen Schäfer machen, um ihm damit eine berufliche Zukunft zu sichern. Das war noch vor der Wende.

Mein Opa konnte zweistimmig pfeifen und erzählte gern Witze. Meine Oma war sehr gesellig und spielte gern Karten. Wenn ich mit ihnen in den Urlaub gefahren bin, haben wir die ganze Fahrt über im Auto gesungen. Er war ein Frühaufsteher, sie der totale Nachtmensch. Er liebte die Ruhe, sie blieb auf jeder Party bis zum Schluss – auch als sie kaum noch konnte. Er hat beim Schafehüten ab und an Liebespaare im Auto aufgeschreckt, wenn er spaßeshalber an die Scheibe geklopft und ihnen mit dem Finger gedroht hat. Sie hat sich darüber kaputt lachen können. Mein Opa war unglaublich neugierig. Meine Oma bewundernswert weltoffen. Sie hatten am 21. Dezember geheiratet – dem kürzesten Tag mit der längsten Nacht des Jahres.

Ihren Hochzeitstag kannten wir alle auswendig

Sie haben als Teenager im Krieg ihre Eltern verloren* und später beide die Lungentuberkulose überlebt. Sie mussten schon früh erwachsen werden und sind deshalb in ihrem späteren Leben voll aufgegangen. Es war sicher nicht sorgenfrei, aber es kam mir so vor.

Die Welt der Bücher

Mit „Heimat“ verbinde ich daher in erster Linie die Erinnerung an meine Großeltern, mit denen ich viel Zeit verbracht habe. Mein lustiger, aber auch sensibler und ungemein liebevoller Opa, der einen ganz fest in den Arm nehmen konnte, und meine toughe kleine Oma, die sich so viel Wissen selbst angeeignet hat und mit der mich unsere Liebe zu Büchern sehr verbunden hat. Ich wusste schon als Kind, dass ich mal all ihre Bücher erben werde, weil ich ihren „Schatz“ als einzige richtig zu schätzen wusste, und so ist es später auch gekommen. Ich habe heute so viele Bücher, dass ich weiß, dass ich sie gar nicht alle lesen kann, selbst wenn ich bis an mein Lebensende nichts anderes machen würde als lesen. Das ist ein seltsames Gefühl.

Damals und heute: Lesen im Kinderzimmer

In meinem alten Kinderzimmer befindet sich neben meinen eigenen Regalen der riesige Wohnzimmerschrank meiner Großeltern, in dem die Bücher teilweise in drei Reihen hintereinander Rücken an Rücken stehen. Ich könnte Stunden damit zubringen, die Bücher durchzugehen, neu zu sortieren, darin zu stöbern,… Manchmal finde ich darin kleine Zeitungsausschnitte oder Notizen von meiner Oma. Sie hat gern Biografien und geschichtliche Bücher gelesen, Sachbücher über die Königshäuser und „Der Laden“ von Erwin Strittmacher, weil dieser Roman sie an ihre eigene Kindheit in einer Bäckerfamilie erinnert hat. Sie hat sich nach der Wende einen Computer zugelegt, weil sie all ihre geliebten Bücher in einer Datei auflisten und nach Autor, Titel, Erscheinungsdatum, Genre, etc. sortieren wollte. Ich sollte ihr dabei helfen und hätte es auch gern getan. Dazu ist es leider nicht mehr gekommen.

Zu weit weg

Ich bin mit 20 von zu Hause weggezogen und war seither viel zu selten zu Besuch. Ich habe deswegen keine Schuldgefühle, aber es tut mir leid. Das einzige Mal, dass ich meine Oma wirklich tief enttäuscht habe, war, als ich ihr irgendwann während meines Studiums gesagt habe, dass ich danach nicht nach Hause zurückziehen würde. Damals hat sie bitterlich geweint.

Als mein Opa vor elf Jahren sehr krank wurde, wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie weit ich eigentlich von zu Hause weg bin, wenn was passiert. Ich konnte ihn nicht so oft im Krankenhaus besuchen, wie ich wollte, weil ich in München gearbeitet habe. 400 km entfernt.

Es war uns innerhalb der Familie schon früher klar, dass keiner der beiden den anderen lang überleben würde. Dazu haben sich meine Großeltern gegenseitig viel zu sehr gebraucht. Meine Oma war der Kopf der beiden und mein Opa der Halt. Sie haben sich auch deshalb oft bei den Händen gefasst, weil meine Oma aus gesundheitlichen Gründen ziemlich wacklig auf den Beinen war. Aber nicht nur das. Als mein Opa im Krankenhaus lag, hat meine Oma bei all den kleinen täglichen Ritualen gesagt: „Wir werden nie wieder zusammen frühstücken.“, „Er wird nie wieder neben mir in der Küche Zeitung lesen, während ich koche.“,… Mein Opa war die Liebe ihres Lebens, auch wenn sie ihn oft geschimpft hat. Zwei Monate nach seinem Tod ist sie ihm gefolgt. Sie wollte nicht ohne ihn zurückbleiben.

Das Leben danach

Das ist bis heute der größte Verlust, den ich erlebt habe, und ich weiß, dass ich mich glücklich schätzen kann. Glücklich, dass ich mit liebevollen Großeltern aufwachsen konnte. Glücklich, dass meine Eltern noch recht jung und gesund sind. Meine Großeltern haben leider nicht mehr erlebt, dass ich meinen Beruf gewechselt und das Yogastudio eröffnet habe. Mein Opa war ein Gesundheitsfanatiker, der hätte das super gefunden. Und ich glaube, sie wissen es doch. Ich habe seit ihrem Tod oft das Gefühl, dass sie bei mir sind und noch irgendwie auf mich aufpassen. Besonders intensiv war dieses Gefühl mal in Indien, als wir im Morgengrauen jeder für sich nach draußen zum halbstündigen Meditieren geschickt wurden. Da waren sie direkt bei mir. In meiner Vorstellung sind sie wieder zusammen. Zufrieden lächelnd und Händchen haltend.

Meine Mama hat auf ihren Grabstein zwei Hände eingravieren lassen, die sich festhalten. Es haut mich immer wieder um, dass diese beiden Hände tatsächlich genau so aussehen wie die Hände von meinen Großeltern. Ich vermisse sie sehr.

 

*Ich habe während meines Studiums schon einmal über meine Großeltern geschrieben. Damals habe ich meine Oma zu ihren Kriegserinnerungen interviewt. Diesen Artikel habe ich bei der Idee für diesen Beitrag wieder hervorgekramt. Es hat mich sehr berührt, was meine Großeltern in jungen Jahren erleben mussten. Und weil ich finde, dass solche Erfahrungen nicht vergessen werden sollten, stelle ich meinen alten Artikel aus dem Jahre 1995 einfach auch in diesen Blog:

Meine Oma, die Zeitzeugin

Eure Nici

MEINE FAMILIE

Meine Oma, die Zeitzeugin

Ich habe meine Oma Christa Beyer 1995 im Rahmen eines Journalistik-Seminars meiner Uni interviewt. Damals war es einfach eine Studienarbeit. Heute bin ich froh darüber. So konnte ich ihre Erinnerungen auf diese Weise festhalten. Damit sie nicht verloren gehen, veröffentliche ich den damaligen Beitrag in diesem Blog. Was das mit Yoga zu tun hat? Ahimsa ist das Sanskrit-Wort für „keine Gewalt“. Mein Verhalten der Umwelt gegenüber ist der erste Teil des achtstufigen Yogapfades. Für uns sollte heute Gewaltlosigkeit in Worten und Taten gar kein Problem mehr sein – und trotzdem schaffen wir es nicht immer. Wie sieht es da erst in Kriegszeiten aus? Und das ist noch gar nicht so lange her. Meine Oma hat es noch erlebt:

Sie kann die jungen, schmucken Soldaten ganz deutlich vor sich sehen. Ihre Uniformen glänzen, sie sind frisch und stecken voller Tatendrang. Das kleine Mädchen Christa steht wie alle anderen am Straßenrand und winkt ihnen zu. Sie ist gerade acht Jahre alt. Viele Menschen werfen den Männern Blumen auf den Weg zum Abschied. Es ist 1939, und die deutschen Truppen marschieren in die Tschechoslowakei ein. Ebenso deutlich sieht sie heute ein zweites Bild: die Rückkehr der Soldaten im Frühjahr 1945. Müde und zerlumpt, mit Fußlappen und zum Teil verletzt, schleppen sie sich zurück zu ihren Familien.

Christa Beyer hat ihre Häkelarbeit zur Seite gelegt. Sie braucht die Hände, um ihre Worte zu unterstreichen. Als der Zweite Weltkrieg begann, war sie ein Kind, und eine Jugendliche, als er endlich wieder aufhörte. Das war vor 50 Jahren. Sie wacht längst nicht mehr auf, weil sie von Fliegerbomben geträumt hat, doch die Erinnerungen an diese Zeit sind kein bisschen verblasst. Vom Balkon ihres Hauses aus kann man riesige Wiesen und Felder bis zu einem Bahndamm am Horizont überblicken. Die Sonne scheint, und es grünt und blüht ringsum. Der kleine Ort Trebnitz in Sachsen-Anhalt liegt nur wenige Kilometer von dem Leuna-Werk entfernt. Während des Krieges war das große Industriegelände Ziel der britischen und später auch amerikanischen Kampfflugzeuge. Die 64-Jährige weist mit einer ausschweifenden Handbewegung auf die Felder. „Dort wurden überall Nebelfässer aufgestellt und angezündet, damit die Bomber das Leuna-Werk nicht finden und zerstören konnten. Deshalb fielen so viele Bomben, die ihr Ziel verfehlten, auf die umliegenden Dörfer.“

1944 gehörte Fliegeralarm fast zur Tagesordnung. Wenn die Familie zu Bett ging, legten sie ihre Kleidung so hin, dass sie ganz schnell hineinschlüpfen konnten, falls es wieder Alarm geben würde. Der Bunker, in den sie flüchteten, befand sich etwa einen Kilometer entfernt in Richtung Leuna. Einmal fiel eine Bombe in den Vorraum, und die stabile Eisen- und Betonkonstruktion schwankte beängstigend. Aber sie hielt aus. Ausländer durften nicht in den Bunker. Sie legten sich bei Alarm in die Gräben der Felder und konnten nur hoffen.

„Wir hatten auch einen Gefangenen in unserer Familie aufgenommen. Ein Pole namens Bolek. Eine treue Seele. Es war verboten, die Gefangenen mit am Tisch essen zu lassen. Doch wenn der Gendarm kam, dann bellte unser Hund ganz laut, und mein Vater sagte nur: „Bolek, Polizei.“ Daraufhin nahm Bolek seinen Teller und setzte sich auf den Kohlenkasten.“ Ihre blau-grauen Augen blitzen belustigt. Bolek war streng katholisch erzogen gewesen. „Manchmal, wenn wir in unserer Verzweiflung laut ‚Gott verdammich!‘ geflucht haben, ist er richtig ausgerastet: ‚Ist denn nicht alles schon schlimm genug?!‘“

Am 6. Dezember 1944 wurde die Familie schließlich total ausgebombt. Nach so langer Zeit kann die kleine Frau heute recht nüchtern davon erzählen. „Wir waren gerade im Bunker, als die Bombe schräg in unser Haus fiel“, berichtet sie sachlich und zeigt kaum eine Regung. „Der Hund war bei uns, aber die Pferde wurden im Stall zugeschüttet. Sie waren nicht verletzt, konnten jedoch nicht heraus. Wir mussten sie durch das Fenster füttern.“

Viele Häuser waren zerstört, und überall standen warnende Schilder: „Plünderer werden zum Tode verurteilt“. Später gab es noch einen nächtlichen Großangriff, bei dem Leuna mit Luftminen bombardiert wurde. Die Familie konnte sich gerade noch in einen Keller retten, von dessen Fenster aus sie das Leuna-Werk sehen konnten. „Durch den großen Luftdruck flogen die Fenster heraus und der Putz herunter, und mir war, als könnte ich durch den Keller schwimmen.“ Aufgeregt wirbelt sie nun mit den Armen. „Auf dem Bauernhof rannten sämtliche Tiere aufgescheucht umher: Kühe, Schweine, Hühner. Alles durcheinander. Zum Glück fiel keine Bombe ins Dorf.“ Der Angriff kam zu überraschend, und die Nebelfässer konnten nicht so schnell aufgefüllt werden.

Ihr Vater, Kurt Deubel, war Bäcker und musste zu Kriegszeiten drei Ortschaften versorgen. Er wurde deshalb nicht zum Kriegsdienst eingezogen, sondern war bei der Heimatflak. Ihr Blick verdunkelt sich, sie zieht die Augenbrauen zusammen und starrt nachdenklich auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne. Es passierte am 14. Januar 1945 gegen Mitternacht. Der Vater hatte den Rest der Familie noch in den Bunker geschickt. Und sie hatte die ganze Zeit über schon so ein ungutes Gefühl. Gleich nach dem Angriff rannten Christa und ihr Bruder Johannes zur Flak. Fünf Männer waren gefallen. Einer war ihr Vater. Die Bäckerei musste erst einmal liegenbleiben.

Am 11. April war der letzte große Angriff. Noch ein Datum, das sie ohne jedes Zögern in ihre Geschichte einfließen lässt. Sie braucht nicht darüber nachzudenken. Diese Daten haben sich fest in ihr Gedächtnis eingeprägt. „Die Amerikaner kamen. Aber sie haben uns nichts getan. Wollten nur ein paar Eier“, winkt sie ab. „Doch dann der große Schock: Unser Teil wird russische Besatzungszone!“

Auch in den umliegenden Städten wie Bad Dürrenberg wurden im Krieg Gefangene gehalten. Russen, Polen, Ukrainer. Sie mussten im Lager leben, und es ging ihnen viel schlechter als denen, die in den Dörfern bei Bauern untergebracht waren. Zu Kriegsende kamen sie dann ins Dorf, um zu plündern und Rache zu üben. Die Großbauern, die wie Kriegsverbrecher behandelt und vertrieben wurden, befanden sich in besonders großer Gefahr. Einer von ihnen wurde von dem wütenden Mob fast in der Saale ertränkt. „Aber unsere Gefangenen haben uns verteidigt. Gott, was da los war! Die gingen mit Hacken aufeinander los!“ Die polnischen Gefangenen haben Fahrräder bekommen und sind in Richtung Osten geradelt. Manche Familien im Dorf stehen noch immer in Kontakt mit ihnen, und sie besuchen sich gegenseitig. Von Bolek haben sie nie wieder etwas gehört.

Der Krieg fiel genau in ihre Schulzeit. Acht Jahre lang hätten die Kinder damals eigentlich in die Volksschule gehen müssen. Doch wenn Christa Beyer heute die Zeit grob zusammenrechnet, die sie tatsächlich in der Schule waren, kommt sie höchstens auf sechs Jahre. Selbst die Lehrer waren zum Kriegsdienst eingezogen, und so gab es nur einen einzigen Dorflehrer, der in mehreren Orten sämtliche Altersklassen unterrichtet hatte. „Viel habe ich von der Schule nicht gehabt. Das meiste lernte ich später in der Berufs- und Meisterschule.“

Der Krieg war gerade vorüber, und die Spur, die er hinterlassen hatte, noch ganz frisch. Es herrschte eine große Hungersnot. „Dabei hatten wir es ja noch gut, wir konnten wenigstens Rübensaft kochen.“ Fast alle Scheunen waren abgebrannt, und das Stroh musste auf den Feldern gelagert werden. Die Tiere hatten sie teilweise in anderen Dörfern untergebracht, wo nicht so viele Ställe zerstört waren. Das verursachte die nächste Auseinandersetzung, weil die Bauern, denen die Pferde und Kühe in Obhut gegeben wurden, die Tiere nicht wieder herausrücken wollten.

Alle haben für sich gewirtschaftet, keiner hatte Geräte. Von dem Getreide mussten die Bauern einen Teil abgeben. Die russische Kommandantur drohte mit Erschießung, wenn sich einer weigerte. Deshalb musste die damals 14-Jährige mit ihrer Familie manchmal die ganze Nacht hindurch Getreide dreschen. „Die Russen waren wie die Dummen“, meint sie noch immer empört und tippt sich energisch mit einem Zeigefinger an die Stirn. „Vor allem waren das Leute, die überhaupt keine Ahnung von der Landwirtschaft hatten, die uns so herumkommandierten. Das Getreide wurde gesammelt und wahrscheinlich gleich nach Russland abtransportiert. Erst später wurden sie umgänglicher.“

Die Familien mussten ihre Waffen abgeben und wurden zu Einsätzen auf die Felder befohlen, um die vielen Bombentrichter zuzuschütten. Es wurde ihnen verboten, ihre Tiere zu schlachten. Dazu brauchte man erst einen Schlachtschein. Obwohl das Vieh gezählt war, schlachteten sie manchmal vor Hunger heimlich mitten in der Nacht. In halbkaputten Geschäften konnte man Kochtöpfe kaufen, die aus alten Stahlhelmen hergestellt worden waren. Der Diebstahl nahm stark zu. Erst konnten sie sich Maschinen ausleihen, um ihre Felder zu bestellen. Dann wurde die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) gegründet. Durch unbezahlbar hohe Steuern wurden die Menschen genötigt, die Eigenwirtschaft aufzugeben und stattdessen der LPG beizutreten. „Uns ging es langsam wieder besser. Mit 21 Jahren habe ich meinen Klaus geheiratet. Unsere Eltern waren tot, und wir haben uns allein durchgewurschtelt. Als selbstständige Bauern ohne Maschinen hätten wir sicherlich schlechter gelebt als mit der LPG.“

Die Soldaten waren aus dem Krieg heimgekehrt, und trotz harter Arbeit und wenig Essen begannen die Menschen wieder zu feiern. „Es fand sich immer mal einer, der Zerrwanst oder Klavier spielen konnte, und so haben wir uns das Tanzen selbst beigebracht.“ Sie unternahmen Ausflüge zusammen, meist in einem uralten Bus, den sie den Berg hochschieben mussten, weil er es aus eigener Kraft nicht mehr schaffte. „Das waren unsere schönsten Fahrten.“ Christa Beyer strahlt über das ganze Gesicht und rutscht unruhig auf ihrem Stuhl herum, weil sie noch so viel davon erzählen könnte. „Der Krieg war vorüber, und wir waren glücklich über Kleinigkeiten. Manchmal hatten wir auch eine Blaskapelle angeheuert. Richtig spielen konnten sie nicht, aber dafür laut und lange.“ Die Mädchen schneiderten sich ihre Kleider selbst und zogen sich mit abgebrannten Streichhölzern den Lidstrich und die Augenbrauen nach. Sie fasst es kurz und knapp zusammen: „Wir haben aus Scheiße Bonbon gemacht.“ Und nachts sind sie Arm und Arm in die Dörfer zurückgegangen und haben Wanderlieder gesungen, froh, wieder zusammen zu sein.

Ja, das waren Zeiten. „Der Zusammenhalt auf den Dörfern war enorm, als wir praktisch nichts hatten. Und heute, wo sie alles kriegen, schlagen sich die Leute die Köpfe ein.“

YOGA-EVENTS

Iyengar Yoga Convention 2018

Uttanasana. Wir stehen hüftbreit in der Vorwärtsbeuge. Die Beine sind gestreckt, der Oberkörper hängt nach unten und wir verlagern langsam das Gewicht. Mal ein wenig auf das rechte Bein, mal auf das linke. Bis wir ganz zentriert sind. Erst dann längen wir den seitlichen Rumpf an der Taille, an den Rippen, unter den Achselhöhlen. Die Wirbelsäule wird lang und länger. Es vergehen etliche Minuten, doch die Zeit steht still. Wir sind mehr als 300 zertifizierte und angehende Iyengar Yogalehrer in der Wiener Stadthalle, aber man hört keinen Ton. Die Konzentration auf die Streckung der Wirbelsäule weitet das Bewusstsein. Das ist Yoga. Es ist wie „zu Hause ankommen“.

So beschreibt es Birjoo Mehta, unser Lehrer an diesem Pfingstwochenende auf der Iyengar Yoga Convention in Wien, und das trifft es genau. Wie oft gelingt mir das bei meiner eigenen Praxis? Ich übe viel und es tut mir immer gut, aber wie oft kann ich wirklich völlig in die Haltungen eintauchen und alles andere ausschalten? Es sind diese Ruhe beim Praktizieren und die Präzision der Worte, mit denen uns Birjoo neue Impulse für das eigene Üben und das Lehren von Yoga schenkt, die mich auf dieser Convention am meisten faszinieren.

Der indische Gastlehrer

Birjoo ist Senior Iyengar Yogalehrer aus Mumbei, Indien. Er wurde Mitte der Siebziger Jahre Schüler von BKS Iyengar und hat ihn später oft auf seinen Reisen durch die Welt begleitet. Wenn BKS Iyengar seine subtilen Anweisungen zur Ausrichtung visualisieren wollte, hat er oft seinen Schüler Birjoo als Modell für die Demonstration herangezogen.

Birjoo Mehta ist geprägt von BKS Iyengar. Er hat von ihm gelernt, sich durch das Beobachten in der Yogapraxis immer weiter zu entwickeln, und strahlt inzwischen längst selbst sehr viel Weisheit aus. Dabei wirkt er auffallend bescheiden und liebenswert. Vor allem Letzteres ist eigentlich nicht gerade die herausstechendste Eigenschaft von Iyengar Yogis. Zumindest nicht auf den ersten Blick. „Streng“ trifft es schon eher. Eine beschützende Strenge, damit die Schüler möglichst verletzungsfrei in die Praxis eintauchen, um Körper und Geist zu verändern. Aber Birjoo ist nicht streng – und hat trotzdem unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Das zeichnet ihn aus.

Wie bei einem Klassentreffen

Es ist meine vierte Convention und bisher waren alle ganz toll. Ich freu mich das ganze Jahr darauf. Ein Gefühl von Urlaub und Klassentreffen. Die Iyengar Yoga Ausbildung dauert Jahre, in denen man sich immer wieder auf Wochenend- und Wochenseminaren zum intensiven gemeinsamen Üben trifft, zu Workshops reist, sich in Kleingruppen gegenseitig verbessert, zusammen lernt und nervenaufreibende Prüfungen ablegt. Das schweißt zusammen.

 

 

 

 

 

 

 

Entspannung in der Pause: Viola und Regina im Convention-Shirt

Die Iyengar Yogis sind eine sehr spezielle, angenehm uneitle Gemeinschaft in meist kurzen Hosen, die diesen Event nutzt, um sich auszutauschen. So wie man bei Politikern oft schon an ihrem Äußeren ihre Parteizugehörigkeit sehen kann oder wie man Journalisten, Anwälte, Lehrer oder Kosmetikerinnen am Aussehen erkennt, lassen sich auch Yogis ihrem Stil klar zuordnen. Wen es aus einer anderen Richtung zum Iyengar Yoga verschlägt, der fällt oft auf wie ein bunter Hund. Nicht nur optisch, sondern auch im ganzen Verhalten. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber Yogis aus der Vinyasa Richtung wirken oft vergleichsweise weich in der Bewegung und ein bisschen selbstverliebt, verabscheuen Hilfsmittel als wären es Stigmata für Unzulänglichkeiten und halten es nicht lange in einer statischen Pose aus. Sie passen sich entweder mit der Zeit an die Iyengar Yogis an oder man sieht sie bei so einem Anlass nie wieder. Iyengar Yogis dagegen sind stolz auf ihre lange Ausbildung. Sie wirken ernsthafter und reifer (auch an Jahren übrigens) und neigen ein bisschen zum Verbessern und Belehren. Ayurvedisch betrachtet dominiert das Pitta-Dosha. Deshalb ist es wohl genau mein Ding.

Building Bridges

Die deutschen Conventions werden jeweils von einem Iyengar Yoga Studio organisiert und in der jeweiligen Stadt ausgerichtet, unterstützt vom Verein. In diesem Jahr erstmals außerhalb von Deutschland, daher lautet auch das Motto diesmal „Building Bridges“. Das Organisationsteam lädt für die Convention jedes Jahr einen Gastlehrer aus Indien ein, der eng mit dem Yoga Institut der Familie Iyengar in Pune, Indien, verwachsen ist und an dem Wochenende sein Wissen mit uns teilt. Birjoo habe ich 2014 schon mal auf einer Convention erlebt und vieles von dem, was er uns damals mitgegeben hat, hilft mir heute noch beim Praktizieren. Wir üben auf den Conventions Seite an Seite mit Freunden, ehemaligen Azubi-Kollegen und auch unseren eigenen Lehrern und Prüfern. Wir sind alle Schüler und werden es immer bleiben.

Mit Magdalena bin ich schon durch dick & dünn – die Prüfung zum Beispiel…

Stehhaltungen, Umkehrhaltungen, Drehhaltungen, Vorwärtsbeugen im Sitzen, Rückbeugen. Wir üben an diesem Pfingstwochenende die Basics, keine besonders schwierigen oder fortgeschrittenen Haltungen, benutzen kaum Hilfsmittel. Aber wir üben diese Basics mit einem neuen Bewusstsein, einem anderen Focus, der sich wie ein roter Faden durch sämtliche Asanas zieht und unsere Aufmerksamkeit aufrecht hält. Wir arbeiten neben der Streckung der Wirbelsäule mit den fünf Vayus, die in jeder Haltung energetisch gezielt an die richtige Stelle im Körper gebracht werden, um leichter in die Position zu kommen und sie lange halten zu können. Sich über die Vayus auszurichten, ist eher untypisch im Iyengar Yoga. Aber es hilft. Birjoo betont immer wieder, dass ein neuer Impuls nicht bedeutet, alles Gelernte über Bord zu werfen. Es ist einfach eine andere Herangehensweise, die eine neue Klarheit und Erkenntnis schafft.

Birjoo bringt mehr Leichtigkeit in meine Praxis. Wenn ich auf die Streckung der Wirbelsäule und einen Punkt zwischen den Schulterblättern konzentriert bin, ermüden die Muskeln nicht so schnell. Es fühlt sich anders an. Auch im Kopf. Ruhig, klar, wach.

„Focus on keeping your spine straight. It is the job of the spine to keep the brain alert.“ BKS Iyengar

Wie wahr. Eure Nici

UNSERE SCHÜLER

Marilias Mutausbruch

Marilia hat 20 kg abgenommen und ist ein neuer Mensch. Die Veränderung war ein langsamer Prozess. Weil Marilia jede Woche dreimal ins YogaKraftwerk kommt und ich sie daher recht oft sehe, ist es mir erst gar nicht aufgefallen. Es war auch nicht der optische Wandel, den ich zuerst bemerkt habe, sondern das neue Selbstvertrauen in ihrer Yogapraxis.

Marilia hat vor knapp drei Jahren mit Yoga begonnen. Im YogaKraftwerk. Sie hat direkt ein Abo abgeschlossen, das sie auch nutzt, und zählt daher inzwischen schon fast zum Inventar. Die 53-Jährige strahlt soviel Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft aus, dass mir jedes Mal das Herz aufgeht, wenn ich sie sehe. Sie ist von Haus aus sehr gelenkig. Im Gegensatz zu den meisten anderen Schülern, müssen wir bei ihr darauf achten, dass sie in manchen Yogahaltungen nicht überdehnt. Davon abgesehen macht ihr diese Flexibilität beim Yoga vieles leichter. Sie kann die Asanas eher genießen, die sich viele andere erst hart erarbeiten müssen. Marilia hat andere Herausforderungen. Bzw.: Sie hatte.

Angst schränkt ein

Marilia war bis vor kurzem ein kleiner Schisser, wenn ich ehrlich sein soll. Die gebürtige Brasilianerin hat sich am liebsten einen Platz in der letzten Reihe oder hintersten Ecke gesucht. Wenn wir Haltungen geübt haben, die ein bisschen Überwindung kosten, hat sie sich mit einer Geschicklichkeit und Unauffälligkeit durch die Übung geschummelt wie ein Analphabet, der sein Defizit kaschiert. Zum Beispiel beim Aerial Yoga: Da flippen und springen wir durchs Tuch, Vorwärtsrolle rein, Rückwärtsrolle raus. Marilia nicht. Bei ihr sah es immer nur so aus als ob. Sie hat getrickst und ihre Energie lieber darauf verwendet, dass ich sie nicht erwische, statt sich auf die Übung zu konzentrieren. Wenn ich zu ihr gesehen habe, war sie immer schon „fertig“ und hat mich angestrahlt…

Doch dann hat Marilia im vergangenen Jahr unseren Workshop „Yoga meets Ayurveda“ besucht und begonnen, sich mit ihrer Ernährung zu beschäftigen. „Ich war eine ‚Fresserin'“, sagt sie heute rückblickend. „Ich habe immer viel in der Firmenkantine gegessen. Und wenn ich spätabends nach Hause kam, hatte ich Heißhungerattacken und habe alles in mich hineingestopft, was ich finden konnte. Eine Tafel Schokolade war weg wie nichts…“ So kam sie auf fast 80 kg bei 1,60 m. Niemand hätte sie als dick bezeichnet, aber es machten sich bereits Knieprobleme bemerkbar. „Außerdem konnte ich mich nicht mehr sehen. Ich wollte unbedingt etwas ändern.“

Marilia vor acht Monaten in Krieger II

Neue Essgewohnheiten

Marilia ließ sich von einer Heilpraktikerin in Sachen Ernährungsumstellung beraten und setzte die Tipps konsequent in die Tat um. Sie verzichtete fortan komplett auf Süßigkeiten. Kohlenhydrate gab es lange Zeit nur noch zum Frühstück, abends dagegen Fisch, Salat, viel Gemüse, wenig Fleisch. In die Kantine geht sie nicht mehr, Marilia bereitet sich ihr Essen für die Arbeit jetzt immer vor. Sie hat auf diese Weise 20 kg verloren – und viel gewonnen: „Es geht mir gesundheitlich besser. Meine Knieschmerzen sind weg. Radfahren und laufen geht leichter, ich habe mehr Spaß daran. Und ich bin lockerer und mutiger geworden. Ich traue mir mehr zu.“ Ihr Mann macht bei der Diät nicht mit, hat aber ganz automatisch auch ein paar Kilos verloren, weil Marilia anders kocht.

Yoga macht diszipliniert

Seit fast einem Jahr zieht sie das jetzt durch. Sie hat ihr Wunschgewicht erreicht. Inzwischen gibt es bei ihr abends auch mal ein paar Kartoffeln oder Nudeln. Sie schafft es heute, Süßigkeiten nur noch zum Genuss zu essen. „Yoga hat sehr dazu beigetragen, disziplinierter und konsequenter zu werden“, meint Marilia. Und Yoga spielt eine große Rolle in ihrem Leben. Neben den Studiobesuchen übt sie auch noch ein- bis zweimal pro Woche zu Hause. Sie hat eine neue Leichtigkeit in ihre Praxis gebracht. Im wahrsten Sinne des Wortes. Auch wenn Faktoren wie Gewicht oder Alter beim Yoga grundsätzlich keine Rolle spielen, kriegt man den Hintern in manchen Übungen natürlich einfacher hoch, wenn er etwas kleiner ist. Marilia flippt heute durch das Tuch oder schwingt sich in den Kopfstand, als wäre es nie ein Problem gewesen. Und sie möchte noch viel mehr. Gerade hat sie sich für ein paar Gastlehrer-Workshops angemeldet: Armbalancen, Umkehrhaltungen, AcroYoga,…

Marilia traut sich heute viel mehr zu

Eure Nici

 

 

YOGA-PHILOSOPHIE

Der Affengott Hanuman

Es war einmal…

…ein junger Königssohn namens Rama, der wegen einer Intrige von seinem Vater in die Verbannung geschickt wird. Seine schöne Frau Sita begleitet ihn. In den Wäldern treffen sie Shurphanaka, ein böses Weib. Shurphanaka verliebt sich in Rama, wird aber von ihm abgewiesen – er ist immerhin verheiratet. Als sie schließlich sogar versucht Sita zu töten, um Rama für sich zu gewinnen, schlägt ihr Rama vor Wut die Nase ab. Jetzt wird die entstellte Shurphanaka erst richtig böse. Sie wendet sich an ihren Bruder, den schrecklichen Dämon Ravana, der 10 Köpfe und 20 Arme hat. Er entführt Sita auf seine Inselfestung nach Lanka (vermutlich das heutige Sri Lanka) und hält sie dort gefangen. Nur mit der selbstlosen Hilfe des Affengottes Hanuman gelingt es Rama, seine Sita aufzuspüren und aus den Fängen des Dämons wieder zu befreien…

Die Geschichte des „Ramayana“ (was übersetzt soviel heißt wie „Ramas Lebenslauf“) ist eines der bedeutendsten indischen Epen. Es ist fast 2000 Jahre alt und umfasst etwa 24.000 Doppelverse über die Taten und Leiden des Helden Rama, insbesondere die Geschichte der Entführung und Wiedergewinnung seiner Frau Sita. Eine dramatische Liebesgeschichte mit einem unschönen Ende. Und ein Lobgesang auf Hanuman, den wahren Held des Epos.

Hanuman ist neben Ganesha der wohl bekannteste und beliebteste der hinduistischen Götter. Sein Geburtstag im März/April ist in Indien ein offizieller Feiertag. Hanuman wird meist mit einem Affengesicht auf einem großen menschlichen Körper dargestellt – ein Körper, der hart ist wie ein Diamant. Der Affengott wird wegen seiner Muskeln auch als Gott der Sportler, Fitnessjünger und Bodybuilder verehrt.

Schutzherr des Pranayama

Hanuman ist der Sohn der schönen, makellosen und tugendhaften Affenfrau Anjana und des Windgottes. Er ist Jesusgleich durch unbefleckte Empfängnis auf die Welt gekommen. Mit Superkräften. In vielen Schriften gilt er gar als eine Inkarnation Shivas. Aufgrund seiner Abstammung vom Windgott wird Hanuman als Schutzherr des Pranayama, der Atemtechniken, betrachtet. Er hat die Herrschaft über das Prana, den lebenswichtigen Atem. Wer Hanuman verehrt, soll daher eine umso wirkungsvollere Pranayama-Praxis erfahren. Aus diesem Grunde wird Hanuman oft fliegend gezeigt.

Hanuman war sich seiner Größe und seiner Kraft lange Zeit nicht bewusst. Viele Mythen handeln von den Jugendstreichen des zutiefst gutmütigen, aber auch etwas unbedachten und tollpatschigen jungen Affen, der sogar die Sonne vom Himmel holen wollte, weil er sie für eine Frucht hielt. Damit zog er den Zorn der Götter auf sich und wurde mit einem Fluch bestraft: nämlich mit der Unwissenheit über seine Superkräfte – bis er auf Rama trifft. Erst wenn er dem Königssohn Rama hingebungsvoll dienen würde, sollten ihm seine übermenschlichen Fähigkeiten wieder bewusst werden und sich sogar noch vervielfachen.

Mut und Hingabe

Hanuman fühlt sich deshalb magisch zu Rama hingezogen, als er ihm im „Ramayana“ erstmals begegnet. Hanuman ist zu diesem Zeitpunkt bereits der tapfere General eines Affenheeres und Rama sucht seine entführte Sita. Der Affe unterstützt ihn dabei und wird zum selbstlosen Diener und treuen Freund Ramas. Bescheiden, mutig, niemals prahlerisch. Er hat die Fähigkeit zu Demut, bedingungsloser Liebe und grenzenloser Loyalität. Einen besseren Freund kann man sich nicht wünschen. Und deshalb wird Hanuman so verehrt. Der Affengott wird oft mit aufgerissener Brust dargestellt (siehe Titelbild von der riesigen Hanuman-Statur in Rishikesh). Wir können in sein Herz sehen, das erfüllt ist von dem Königspaar Rama und Sita. In jedem Rama-Tempel gibt es auch eine Statur oder ein Bildnis von Hanuman. Rama und Hanuman gehören zusammen.

Hanumans Superkräfte

Hanuman ist in Indien ein Superheld, der mit Hilfe seiner übernatürlichen Kräfte viele Wunder vollbringen kann. Er ist bekannt für seine großen Sprünge: Um die entführte Sita aufzuspüren, überwindet er die Meerenge zwischen Indien und (Sri) Lanka (=54,8 km an der engsten Stelle!) mit einem einzigen gigantischen Sprung. In meiner Ausgabe des „Ramayana“ (Diederichs Gelbe Reihe) erstreckt sich allein die heroische Beschreibung des Wahnsinns-Sprunges über 10 Seiten…

Hanuman kann zudem seinen Körper zu einer ungeheuren Größe ausdehnen oder auf die Größe eines Daumennagels schrumpfen lassen: In Lanka angekommen überbringt er dem Dämon Ravana die Botschaft, dass er Sita freilassen und sich bei Rama entschuldigen soll. Ravana denkt aber gar nicht daran, sondern lässt Hanuman stattdessen in Fesseln legen, den Affenschwanz in Öl und Ghee (Butterschmalz) wickeln und anzünden, um ihn zu entehren. Hanuman macht sich daraufhin erst ganz klein, um aus den Fesseln zu schlüpfen und dann riesig groß, um mit seinem brennenden Schwanz ganz Lanka anzuzünden. (Übrigens: Bei der anschließenden Abkühlung im Meer zeugt er versehentlich ein Kind. Denn als ein Tropfen seines Schweißes einem Fisch ins Maul fällt, bringt der daraufhin Hanumans Sohn Makar Dhuaj zur Welt. So schnell kann’s gehen…)

Hanuman kann Berge versetzen: Um Ramas Bruder zu retten, der sich beim Kampf gegen den Dämon lebensgefährlich verletzt hat, soll Hanuman eine bestimmte Heilpflanze von einem Himalaya-Gipfel besorgen. Der Affengott fliegt übers Meer in den Himalaya – und vergisst, wie die Pflanze aussieht, die er holen soll. Weil die Zeit eilt, vergrößert er seinen Körper um ein Vielfaches und nimmt gleich den ganzen Gipfel des Berges mit der lebensspendenden Pflanze mit.

Fliegen wie Hanuman über den Himalaya

Hanuman ist unsterblich. Als Rama stirbt, will Hanuman ihm folgen, aber Rama bittet ihn auf der Erde zu bleiben, um hingebungsvollen Menschen zu dienen. Er ist daher einer der insgesamt 7 unsterblichen Wesen in erdnahen Ebenen, die für Menschen erreichbar sind. Es soll besonders leicht sein, die unmittelbare Gegenwart dieser Götter zu erfahren.

Hanuman-Yogahaltungen

Manche Asanas sind nach Hanuman benannt:

  • Hanumanasana
    • Der Spagat. Er symbolisiert die weiten Sprünge Hanumans und seine Fähigkeit, Grenzen zu überwinden und über sich hinauszuwachsen durch Ausweitung und Hingabe.
    • Der Spagat war offenbar auch für BKS Iyengar eine ganz besondere Haltung: „Diese schöne Stellung hilft Ischias und andere Schäden in den Beinen zu heilen“, schreibt er in „Licht auf Yoga“ und widmet Hanumans Geschichte einen großen Absatz.

BKS Iyengar in Hanumanasana (Quelle: „Licht auf Yoga“, Verlag O.W. Barth)

  • Anjaneyasana (Anjaneya = Sohn von Anjana, der Affenfrau)
    • Tiefer Ausfallschritt mit dem Knie am Boden. Wird auch Halbmond genannt oder Low Lunge.
    • Diese Haltung symbolisiert den Flug zum Himalaya, um die Heilpflanze zu besorgen.

Swami Vishnudevananda in Anjaneyasana (Quelle: „Das große illustrierte Yogabuch“, Verlag Aurum)

Der Gedanke an Hanuman hilft mir zudem in vielen anderen Yogahaltungen, seit ich 2014 den großartigen Iyengar Yogi Birjoo Mehta auf einer Yoga-Convention erlebt habe. Wir sollten uns damals vorstellen, dass wir uns wie Hanuman den Brustkorb aufreißen, um unseren Brustraum in den Asanas zu weiten.

Es gibt übrigens sehr schöne Lieder und Mantren über Hanuman, zum Beispiel von Krishna Das, einem großen Hanuman-Verehrer:

https://www.youtube.com/watch?v=Lv7lVaTYgGI

Eure Nici