Uttanasana. Wir stehen hüftbreit in der Vorwärtsbeuge. Die Beine sind gestreckt, der Oberkörper hängt nach unten und wir verlagern langsam das Gewicht. Mal ein wenig auf das rechte Bein, mal auf das linke. Bis wir ganz zentriert sind. Erst dann längen wir den seitlichen Rumpf an der Taille, an den Rippen, unter den Achselhöhlen. Die Wirbelsäule wird lang und länger. Es vergehen etliche Minuten, doch die Zeit steht still. Wir sind mehr als 300 zertifizierte und angehende Iyengar Yogalehrer in der Wiener Stadthalle, aber man hört keinen Ton. Die Konzentration auf die Streckung der Wirbelsäule weitet das Bewusstsein. Das ist Yoga. Es ist wie „zu Hause ankommen“.
So beschreibt es Birjoo Mehta, unser Lehrer an diesem Pfingstwochenende auf der Iyengar Yoga Convention in Wien, und das trifft es genau. Wie oft gelingt mir das bei meiner eigenen Praxis? Ich übe viel und es tut mir immer gut, aber wie oft kann ich wirklich völlig in die Haltungen eintauchen und alles andere ausschalten? Es sind diese Ruhe beim Praktizieren und die Präzision der Worte, mit denen uns Birjoo neue Impulse für das eigene Üben und das Lehren von Yoga schenkt, die mich auf dieser Convention am meisten faszinieren.
Der indische Gastlehrer
Birjoo ist Senior Iyengar Yogalehrer aus Mumbei, Indien. Er wurde Mitte der Siebziger Jahre Schüler von BKS Iyengar und hat ihn später oft auf seinen Reisen durch die Welt begleitet. Wenn BKS Iyengar seine subtilen Anweisungen zur Ausrichtung visualisieren wollte, hat er oft seinen Schüler Birjoo als Modell für die Demonstration herangezogen.
Birjoo Mehta ist geprägt von BKS Iyengar. Er hat von ihm gelernt, sich durch das Beobachten in der Yogapraxis immer weiter zu entwickeln, und strahlt inzwischen längst selbst sehr viel Weisheit aus. Dabei wirkt er auffallend bescheiden und liebenswert. Vor allem Letzteres ist eigentlich nicht gerade die herausstechendste Eigenschaft von Iyengar Yogis. Zumindest nicht auf den ersten Blick. „Streng“ trifft es schon eher. Eine beschützende Strenge, damit die Schüler möglichst verletzungsfrei in die Praxis eintauchen, um Körper und Geist zu verändern. Aber Birjoo ist nicht streng – und hat trotzdem unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Das zeichnet ihn aus.
Wie bei einem Klassentreffen
Es ist meine vierte Convention und bisher waren alle ganz toll. Ich freu mich das ganze Jahr darauf. Ein Gefühl von Urlaub und Klassentreffen. Die Iyengar Yoga Ausbildung dauert Jahre, in denen man sich immer wieder auf Wochenend- und Wochenseminaren zum intensiven gemeinsamen Üben trifft, zu Workshops reist, sich in Kleingruppen gegenseitig verbessert, zusammen lernt und nervenaufreibende Prüfungen ablegt. Das schweißt zusammen.
Entspannung in der Pause: Viola und Regina im Convention-Shirt
Die Iyengar Yogis sind eine sehr spezielle, angenehm uneitle Gemeinschaft in meist kurzen Hosen, die diesen Event nutzt, um sich auszutauschen. So wie man bei Politikern oft schon an ihrem Äußeren ihre Parteizugehörigkeit sehen kann oder wie man Journalisten, Anwälte, Lehrer oder Kosmetikerinnen am Aussehen erkennt, lassen sich auch Yogis ihrem Stil klar zuordnen. Wen es aus einer anderen Richtung zum Iyengar Yoga verschlägt, der fällt oft auf wie ein bunter Hund. Nicht nur optisch, sondern auch im ganzen Verhalten. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber Yogis aus der Vinyasa Richtung wirken oft vergleichsweise weich in der Bewegung und ein bisschen selbstverliebt, verabscheuen Hilfsmittel als wären es Stigmata für Unzulänglichkeiten und halten es nicht lange in einer statischen Pose aus. Sie passen sich entweder mit der Zeit an die Iyengar Yogis an oder man sieht sie bei so einem Anlass nie wieder. Iyengar Yogis dagegen sind stolz auf ihre lange Ausbildung. Sie wirken ernsthafter und reifer (auch an Jahren übrigens) und neigen ein bisschen zum Verbessern und Belehren. Ayurvedisch betrachtet dominiert das Pitta-Dosha. Deshalb ist es wohl genau mein Ding.
Building Bridges
Die deutschen Conventions werden jeweils von einem Iyengar Yoga Studio organisiert und in der jeweiligen Stadt ausgerichtet, unterstützt vom Verein. In diesem Jahr erstmals außerhalb von Deutschland, daher lautet auch das Motto diesmal „Building Bridges“. Das Organisationsteam lädt für die Convention jedes Jahr einen Gastlehrer aus Indien ein, der eng mit dem Yoga Institut der Familie Iyengar in Pune, Indien, verwachsen ist und an dem Wochenende sein Wissen mit uns teilt. Birjoo habe ich 2014 schon mal auf einer Convention erlebt und vieles von dem, was er uns damals mitgegeben hat, hilft mir heute noch beim Praktizieren. Wir üben auf den Conventions Seite an Seite mit Freunden, ehemaligen Azubi-Kollegen und auch unseren eigenen Lehrern und Prüfern. Wir sind alle Schüler und werden es immer bleiben.
Mit Magdalena bin ich schon durch dick & dünn – die Prüfung zum Beispiel…
Stehhaltungen, Umkehrhaltungen, Drehhaltungen, Vorwärtsbeugen im Sitzen, Rückbeugen. Wir üben an diesem Pfingstwochenende die Basics, keine besonders schwierigen oder fortgeschrittenen Haltungen, benutzen kaum Hilfsmittel. Aber wir üben diese Basics mit einem neuen Bewusstsein, einem anderen Focus, der sich wie ein roter Faden durch sämtliche Asanas zieht und unsere Aufmerksamkeit aufrecht hält. Wir arbeiten neben der Streckung der Wirbelsäule mit den fünf Vayus, die in jeder Haltung energetisch gezielt an die richtige Stelle im Körper gebracht werden, um leichter in die Position zu kommen und sie lange halten zu können. Sich über die Vayus auszurichten, ist eher untypisch im Iyengar Yoga. Aber es hilft. Birjoo betont immer wieder, dass ein neuer Impuls nicht bedeutet, alles Gelernte über Bord zu werfen. Es ist einfach eine andere Herangehensweise, die eine neue Klarheit und Erkenntnis schafft.
Birjoo bringt mehr Leichtigkeit in meine Praxis. Wenn ich auf die Streckung der Wirbelsäule und einen Punkt zwischen den Schulterblättern konzentriert bin, ermüden die Muskeln nicht so schnell. Es fühlt sich anders an. Auch im Kopf. Ruhig, klar, wach.
„Focus on keeping your spine straight. It is the job of the spine to keep the brain alert.“ BKS Iyengar
Wie wahr. Eure Nici