Seit einem halben Jahr arbeitet Tina an ihrer Beweglichkeit. Insbesondere in Uttanasana, der Vorbeuge im Stehen. Einmal im Monat treffen wir uns extra für die Challenge im YogaKraftwerk für eine Bestandsaufnahme der Fortschritte und Probleme, für Tipps und Tricks. Jedes Quartal gibt es davon eine Zusammenfassung hier im Blog.
Im Januar kam Tina in der Vorbeuge noch nicht mit den Fingern zum Boden. Das ist zwar kein Problem, macht aber die Asana-Praxis manchmal etwas mühsam. Viele glauben deshalb, sie seien zu steif für Yoga. Das ist Quatsch, denn die Übungen tragen ja dazu bei, flexibler zu werden. Man muss dem Körper aber auch die Zeit geben sich zu entwickeln, Verspannungen zu lösen, geschmeidiger zu werden. Wer Jahre oder sogar Jahrzehnte seine Beweglichkeit vernachlässigt hat, stattdessen im Laufe der Zeit diverse private, berufliche, vielleicht auch gesundheitliche Probleme überstehen musste, kann nicht erwarten, dass ein paar Yogastunden alles wieder richten. Das geht gar nicht. Tina weiß das. Trotzdem ist ihr größter Gegner ihre Ungeduld. Dabei hat sich schon einiges getan: Inzwischen bekommt sie nicht nur ihre Fingerspitzen zum Boden, sondern fast schon die ganze Hand. Doch der Reihe nach…
Der April
Nach den kleinen Erfolgserlebnissen im ersten Quartal, die das Üben deutlich leichter gemacht haben, begann das zweite Quartal mit Frust. Und ich bin Schuld. Ich hatte eine Woche lang in den Iyengar Yogastunden Drehhaltungen in den Fokus gerückt. Drehhaltungen sind wichtig: Sie mobilisieren die Wirbelsäule und gleichen sie aus, halten die Bandscheiben „saftig“ und massieren und aktivieren die Bauchorgane. Drehungen helfen auch, körperliche und emotionale Anspannungen zu lösen und so zur Ruhe zu kommen. Aber sie sind anstrengend. „Macht Euch darauf gefasst, in viele mürrische Gesichter zu blicken, wenn Ihr Drehhaltungen unterrichtet“, hat Sigrun Ramsperger, eine meiner klugen Ausbilderinnen, mal gesagt. Ich werde jedes Mal daran erinnert, wenn ich sie zum Schwerpunkt mache. Die Drehhaltungen haben Tina jedenfalls etwas runtergezogen, denn sie haben ihr ihre Limits aufgezeigt. Drehungen brauchen mobile Schultern und das ist bei Tina aufgrund ihrer Verspannungen eingeschränkt.
Aber sie übt weiter. Mal nach Video, mal im Studio, täglich wenigstens die Vorbeuge und den Herabschauenden Hund. Am Wochenende oft eine ganze Stunde zu Hause. „Manchmal übe ich auch vor dem Fernseher“, gibt sie etwas verschämt zu. Was solls? Das ist dann vielleicht kein Yoga, sondern eher Gymnastik, wenn der Kopf nicht bei der Sache ist, aber es verbessert trotzdem die Beweglichkeit.
Der Sonnengruß gehört inzwischen zu Tinas Standard-Programm, denn er macht ihren Körper weicher und zugänglicher für die anderen Haltungen. Ich gebe ihr ein paar weitere kurze, dynamische Aufwärmsequenzen mit auf den Weg – und eine Vorlage für ein Yoga-Tagebuch, wie ich es selbst während meiner Ausbildung führen musste und das mir damals sehr geholfen hat, meine Praxis zu beobachten und einzuschätzen.
Der Mai
Tina hat immer noch das Gefühl, dass ihre Fortschritte stagnieren. Und damit auch die Motivation. Ihre kleine Tochter Leni wird inzwischen auch agiler und braucht mehr Aufmerksamkeit. Dadurch hat Tina weniger Gelegenheit zum Üben. Das Tagebuch lässt sie liegen. Wahrscheinlich möchte sie es nicht auch noch schriftlich vorgehalten kriegen, wenn sie nachlässt. Am Wochenende geht Tinas Mann Nico mit Leni raus zum Spielen und Spazieren, damit Tina am Ball bleiben kann. Dann übt sie nach Video und ihre Challenge-Grundhaltungen (Vorbeuge, Hund, Vorbeuge in der Grätsche, Vorbeuge im Sitzen,…). Vorm Schlafengehen dehnt sie noch ein bisschen.
Alles normal. Alles gut. Ich habe auch nicht immer Zeit für meine eigene Praxis. Manchmal haben einfach andere Dinge Prioriät. Und manchmal hab ich einfach keinen Bock auf Yoga. Dann brauch ich einen neuen Anlauf. Plane es besser in meinen Tagesablauf ein, suche mir neue Zeitfenster, lass mich von anderen Lehrern inspirieren und lege fest, welche Sequenzen ich in den nächsten 7 Tagen üben werde. Das hilft eigentlich immer. Dann hab ich wieder Lust und finde schließlich auch die Zeit dafür.
Tina, die inzwischen mit den Fingern ihre Zehen erreicht, hat immerhin festgestellt, dass es ihr hilft, sich daran in die Länge und schließlich tiefer in die Vorwärtsbeuge zu ziehen. Wir ergänzen ihre Grundhaltungen also um diverse Variationen: in der Vorbeuge die Hände unter die Füße schieben oder die Fersen greifen, verschiedene Armhaltungen in der gegrätschten Vorbeuge, verschiedene Beinhaltungen in der sitzenden Vorbeuge,…
Der Juni
„Ich habe gute Nachrichten“, begrüßt mich Tina bei unserem Termin. „Mein Rücken ist deutlich besser. Die Beweglichkeit in der Brustwirbelsäule, die Mobilität der Schultern – alles besser.“ Das regelmäßige Strecken in den Vorwärtsbeugen, das Langziehen des Rückens, kombiniert mit Drehhaltungen und der Kräftigung durch armgestützte Haltungen tun ihr offenbar gut. Den Sonnengruß macht sie richtig gern und ausgerechnet Chaturanga, das Brett, das jede Frau hasst, ist inzwischen ihre Lieblingshaltung!
Tina freut sich auch darüber, dass sie aufgrund der besseren Beweglichkeit für ihre Praxis zu Hause gar keine Hilfsmittel mehr braucht. „Ich habe nur noch meine Matte da liegen, sonst nichts.“ Keinen Gurt, der die Arme verlängert, um an die Füße zu kommen. Keine Klötze unter den Händen, weil der Boden zu weit weg ist. Nichts. Tina strahlt. „Das ist einfach ein schöneres Üben.“
Tina hat dieses Mal fleißig ihr Yoga-Tagebuch geführt. An 19 von 30 Tagen im Juni hat sie mindestens 20 Minuten Yoga geübt, oft deutlich mehr. Meist ging es ihr nach der Praxis besser als vorher. Einmal ist sie bei der Stehenden Vorwärtsbeuge in der Grätsche auf den Kopf gefallen. Seither ist sie dabei etwas vorsichtiger…
Die Beweglichkeit hängt natürlich immer noch von der Tagesform und vorallem der Tageszeit ab. Und davon wiederum die jeweilige Motivation. Es geht ihr auch immer noch zu langsam voran. „Ich bin ein bisschen bequem, muss ich zugeben: Ich übe meistens nur das, was gut geht…“ Sagt die Frau, die gern Chaturanga übt…
Sie sagt aber auch, dass es ihr noch an der richtigen Einstellung zum Yoga fehlt. Dass sie Yoga noch viel zu sehr als Sportprogramm und Training sieht. Da fühle ich mich wieder gefordert. Die Asana-Praxis ist ein wichtiger, aber eben nur ein Teil des Yogaweges. Das möchte ich auch vermitteln.
Eure Nici