MEINE FAMILIE

Meine Oma, die Zeitzeugin

Ich habe meine Oma Christa Beyer 1995 im Rahmen eines Journalistik-Seminars meiner Uni interviewt. Damals war es einfach eine Studienarbeit. Heute bin ich froh darüber. So konnte ich ihre Erinnerungen auf diese Weise festhalten. Damit sie nicht verloren gehen, veröffentliche ich den damaligen Beitrag in diesem Blog. Was das mit Yoga zu tun hat? Ahimsa ist das Sanskrit-Wort für „keine Gewalt“. Mein Verhalten der Umwelt gegenüber ist der erste Teil des achtstufigen Yogapfades. Für uns sollte heute Gewaltlosigkeit in Worten und Taten gar kein Problem mehr sein – und trotzdem schaffen wir es nicht immer. Wie sieht es da erst in Kriegszeiten aus? Und das ist noch gar nicht so lange her. Meine Oma hat es noch erlebt:

Sie kann die jungen, schmucken Soldaten ganz deutlich vor sich sehen. Ihre Uniformen glänzen, sie sind frisch und stecken voller Tatendrang. Das kleine Mädchen Christa steht wie alle anderen am Straßenrand und winkt ihnen zu. Sie ist gerade acht Jahre alt. Viele Menschen werfen den Männern Blumen auf den Weg zum Abschied. Es ist 1939, und die deutschen Truppen marschieren in die Tschechoslowakei ein. Ebenso deutlich sieht sie heute ein zweites Bild: die Rückkehr der Soldaten im Frühjahr 1945. Müde und zerlumpt, mit Fußlappen und zum Teil verletzt, schleppen sie sich zurück zu ihren Familien.

Christa Beyer hat ihre Häkelarbeit zur Seite gelegt. Sie braucht die Hände, um ihre Worte zu unterstreichen. Als der Zweite Weltkrieg begann, war sie ein Kind, und eine Jugendliche, als er endlich wieder aufhörte. Das war vor 50 Jahren. Sie wacht längst nicht mehr auf, weil sie von Fliegerbomben geträumt hat, doch die Erinnerungen an diese Zeit sind kein bisschen verblasst. Vom Balkon ihres Hauses aus kann man riesige Wiesen und Felder bis zu einem Bahndamm am Horizont überblicken. Die Sonne scheint, und es grünt und blüht ringsum. Der kleine Ort Trebnitz in Sachsen-Anhalt liegt nur wenige Kilometer von dem Leuna-Werk entfernt. Während des Krieges war das große Industriegelände Ziel der britischen und später auch amerikanischen Kampfflugzeuge. Die 64-Jährige weist mit einer ausschweifenden Handbewegung auf die Felder. „Dort wurden überall Nebelfässer aufgestellt und angezündet, damit die Bomber das Leuna-Werk nicht finden und zerstören konnten. Deshalb fielen so viele Bomben, die ihr Ziel verfehlten, auf die umliegenden Dörfer.“

1944 gehörte Fliegeralarm fast zur Tagesordnung. Wenn die Familie zu Bett ging, legten sie ihre Kleidung so hin, dass sie ganz schnell hineinschlüpfen konnten, falls es wieder Alarm geben würde. Der Bunker, in den sie flüchteten, befand sich etwa einen Kilometer entfernt in Richtung Leuna. Einmal fiel eine Bombe in den Vorraum, und die stabile Eisen- und Betonkonstruktion schwankte beängstigend. Aber sie hielt aus. Ausländer durften nicht in den Bunker. Sie legten sich bei Alarm in die Gräben der Felder und konnten nur hoffen.

„Wir hatten auch einen Gefangenen in unserer Familie aufgenommen. Ein Pole namens Bolek. Eine treue Seele. Es war verboten, die Gefangenen mit am Tisch essen zu lassen. Doch wenn der Gendarm kam, dann bellte unser Hund ganz laut, und mein Vater sagte nur: „Bolek, Polizei.“ Daraufhin nahm Bolek seinen Teller und setzte sich auf den Kohlenkasten.“ Ihre blau-grauen Augen blitzen belustigt. Bolek war streng katholisch erzogen gewesen. „Manchmal, wenn wir in unserer Verzweiflung laut ‚Gott verdammich!‘ geflucht haben, ist er richtig ausgerastet: ‚Ist denn nicht alles schon schlimm genug?!‘“

Am 6. Dezember 1944 wurde die Familie schließlich total ausgebombt. Nach so langer Zeit kann die kleine Frau heute recht nüchtern davon erzählen. „Wir waren gerade im Bunker, als die Bombe schräg in unser Haus fiel“, berichtet sie sachlich und zeigt kaum eine Regung. „Der Hund war bei uns, aber die Pferde wurden im Stall zugeschüttet. Sie waren nicht verletzt, konnten jedoch nicht heraus. Wir mussten sie durch das Fenster füttern.“

Viele Häuser waren zerstört, und überall standen warnende Schilder: „Plünderer werden zum Tode verurteilt“. Später gab es noch einen nächtlichen Großangriff, bei dem Leuna mit Luftminen bombardiert wurde. Die Familie konnte sich gerade noch in einen Keller retten, von dessen Fenster aus sie das Leuna-Werk sehen konnten. „Durch den großen Luftdruck flogen die Fenster heraus und der Putz herunter, und mir war, als könnte ich durch den Keller schwimmen.“ Aufgeregt wirbelt sie nun mit den Armen. „Auf dem Bauernhof rannten sämtliche Tiere aufgescheucht umher: Kühe, Schweine, Hühner. Alles durcheinander. Zum Glück fiel keine Bombe ins Dorf.“ Der Angriff kam zu überraschend, und die Nebelfässer konnten nicht so schnell aufgefüllt werden.

Ihr Vater, Kurt Deubel, war Bäcker und musste zu Kriegszeiten drei Ortschaften versorgen. Er wurde deshalb nicht zum Kriegsdienst eingezogen, sondern war bei der Heimatflak. Ihr Blick verdunkelt sich, sie zieht die Augenbrauen zusammen und starrt nachdenklich auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne. Es passierte am 14. Januar 1945 gegen Mitternacht. Der Vater hatte den Rest der Familie noch in den Bunker geschickt. Und sie hatte die ganze Zeit über schon so ein ungutes Gefühl. Gleich nach dem Angriff rannten Christa und ihr Bruder Johannes zur Flak. Fünf Männer waren gefallen. Einer war ihr Vater. Die Bäckerei musste erst einmal liegenbleiben.

Am 11. April war der letzte große Angriff. Noch ein Datum, das sie ohne jedes Zögern in ihre Geschichte einfließen lässt. Sie braucht nicht darüber nachzudenken. Diese Daten haben sich fest in ihr Gedächtnis eingeprägt. „Die Amerikaner kamen. Aber sie haben uns nichts getan. Wollten nur ein paar Eier“, winkt sie ab. „Doch dann der große Schock: Unser Teil wird russische Besatzungszone!“

Auch in den umliegenden Städten wie Bad Dürrenberg wurden im Krieg Gefangene gehalten. Russen, Polen, Ukrainer. Sie mussten im Lager leben, und es ging ihnen viel schlechter als denen, die in den Dörfern bei Bauern untergebracht waren. Zu Kriegsende kamen sie dann ins Dorf, um zu plündern und Rache zu üben. Die Großbauern, die wie Kriegsverbrecher behandelt und vertrieben wurden, befanden sich in besonders großer Gefahr. Einer von ihnen wurde von dem wütenden Mob fast in der Saale ertränkt. „Aber unsere Gefangenen haben uns verteidigt. Gott, was da los war! Die gingen mit Hacken aufeinander los!“ Die polnischen Gefangenen haben Fahrräder bekommen und sind in Richtung Osten geradelt. Manche Familien im Dorf stehen noch immer in Kontakt mit ihnen, und sie besuchen sich gegenseitig. Von Bolek haben sie nie wieder etwas gehört.

Der Krieg fiel genau in ihre Schulzeit. Acht Jahre lang hätten die Kinder damals eigentlich in die Volksschule gehen müssen. Doch wenn Christa Beyer heute die Zeit grob zusammenrechnet, die sie tatsächlich in der Schule waren, kommt sie höchstens auf sechs Jahre. Selbst die Lehrer waren zum Kriegsdienst eingezogen, und so gab es nur einen einzigen Dorflehrer, der in mehreren Orten sämtliche Altersklassen unterrichtet hatte. „Viel habe ich von der Schule nicht gehabt. Das meiste lernte ich später in der Berufs- und Meisterschule.“

Der Krieg war gerade vorüber, und die Spur, die er hinterlassen hatte, noch ganz frisch. Es herrschte eine große Hungersnot. „Dabei hatten wir es ja noch gut, wir konnten wenigstens Rübensaft kochen.“ Fast alle Scheunen waren abgebrannt, und das Stroh musste auf den Feldern gelagert werden. Die Tiere hatten sie teilweise in anderen Dörfern untergebracht, wo nicht so viele Ställe zerstört waren. Das verursachte die nächste Auseinandersetzung, weil die Bauern, denen die Pferde und Kühe in Obhut gegeben wurden, die Tiere nicht wieder herausrücken wollten.

Alle haben für sich gewirtschaftet, keiner hatte Geräte. Von dem Getreide mussten die Bauern einen Teil abgeben. Die russische Kommandantur drohte mit Erschießung, wenn sich einer weigerte. Deshalb musste die damals 14-Jährige mit ihrer Familie manchmal die ganze Nacht hindurch Getreide dreschen. „Die Russen waren wie die Dummen“, meint sie noch immer empört und tippt sich energisch mit einem Zeigefinger an die Stirn. „Vor allem waren das Leute, die überhaupt keine Ahnung von der Landwirtschaft hatten, die uns so herumkommandierten. Das Getreide wurde gesammelt und wahrscheinlich gleich nach Russland abtransportiert. Erst später wurden sie umgänglicher.“

Die Familien mussten ihre Waffen abgeben und wurden zu Einsätzen auf die Felder befohlen, um die vielen Bombentrichter zuzuschütten. Es wurde ihnen verboten, ihre Tiere zu schlachten. Dazu brauchte man erst einen Schlachtschein. Obwohl das Vieh gezählt war, schlachteten sie manchmal vor Hunger heimlich mitten in der Nacht. In halbkaputten Geschäften konnte man Kochtöpfe kaufen, die aus alten Stahlhelmen hergestellt worden waren. Der Diebstahl nahm stark zu. Erst konnten sie sich Maschinen ausleihen, um ihre Felder zu bestellen. Dann wurde die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) gegründet. Durch unbezahlbar hohe Steuern wurden die Menschen genötigt, die Eigenwirtschaft aufzugeben und stattdessen der LPG beizutreten. „Uns ging es langsam wieder besser. Mit 21 Jahren habe ich meinen Klaus geheiratet. Unsere Eltern waren tot, und wir haben uns allein durchgewurschtelt. Als selbstständige Bauern ohne Maschinen hätten wir sicherlich schlechter gelebt als mit der LPG.“

Die Soldaten waren aus dem Krieg heimgekehrt, und trotz harter Arbeit und wenig Essen begannen die Menschen wieder zu feiern. „Es fand sich immer mal einer, der Zerrwanst oder Klavier spielen konnte, und so haben wir uns das Tanzen selbst beigebracht.“ Sie unternahmen Ausflüge zusammen, meist in einem uralten Bus, den sie den Berg hochschieben mussten, weil er es aus eigener Kraft nicht mehr schaffte. „Das waren unsere schönsten Fahrten.“ Christa Beyer strahlt über das ganze Gesicht und rutscht unruhig auf ihrem Stuhl herum, weil sie noch so viel davon erzählen könnte. „Der Krieg war vorüber, und wir waren glücklich über Kleinigkeiten. Manchmal hatten wir auch eine Blaskapelle angeheuert. Richtig spielen konnten sie nicht, aber dafür laut und lange.“ Die Mädchen schneiderten sich ihre Kleider selbst und zogen sich mit abgebrannten Streichhölzern den Lidstrich und die Augenbrauen nach. Sie fasst es kurz und knapp zusammen: „Wir haben aus Scheiße Bonbon gemacht.“ Und nachts sind sie Arm und Arm in die Dörfer zurückgegangen und haben Wanderlieder gesungen, froh, wieder zusammen zu sein.

Ja, das waren Zeiten. „Der Zusammenhalt auf den Dörfern war enorm, als wir praktisch nichts hatten. Und heute, wo sie alles kriegen, schlagen sich die Leute die Köpfe ein.“