MEINE FAMILIE

HeimatLiebe

Meine Oma Christa hatte den Spitznamen „Der General“ in unserer Familie, weil sie so dominant war und meinen Opa Klaus herumkommandiert hat. Es herrschte tagsüber oft ein rauer Ton zwischen den beiden. Aber wenn ich sie abends in ihrer Hälfte unseres Hauses besucht habe, saßen sie immer Hand in Hand nebeneinander in ihren Sesseln und haben zusammen gelesen oder ferngesehen. Das stand für mich stets sinnbildlich für ihre enge Beziehung.

Sie haben die gemeinsamen Abende in ihrem schönen, großen Haus, das sie sich selbst erbaut hatten, genossen. Die Zeit zu zweit – mit ihren Kindern und Enkeln direkt nebenan. Mir hat es damals ein bisschen die Luft abgeschnürt, dass die ganze Familie unter einem Dach gelebt hat, aber für meine Großeltern war es genau richtig. Und rückblickend war es auch eine sehr schöne Zeit.

Mit Omi und Opi auf unserem Hof

Bilderbuch-Großeltern

Meine Großeltern waren immer stolz auf uns. Vor allem auch über die Entwicklung von meinem Bruder Björn, der aufgrund seiner Behinderung besondere Förderung brauchte. Meine Oma hat mit ihm so oft Lesen geübt, dass er heute noch davon erzählt, wie ihm damals der Kopf geraucht hat, weil sie nicht locker ließ. Sie haben ihm viel über Landwirtschaft, Pflanzen und Tiere beigebracht. Mich hatte das Landleben nicht so interessiert, aber Björn weiß das alles immer noch. Mein Opa war Schäfer. Er wollte 120 Jahre alt werden und aus Björn auch einen Schäfer machen, um ihm damit eine berufliche Zukunft zu sichern. Das war noch vor der Wende.

Mein Opa konnte zweistimmig pfeifen und erzählte gern Witze. Meine Oma war sehr gesellig und spielte gern Karten. Wenn ich mit ihnen in den Urlaub gefahren bin, haben wir die ganze Fahrt über im Auto gesungen. Er war ein Frühaufsteher, sie der totale Nachtmensch. Er liebte die Ruhe, sie blieb auf jeder Party bis zum Schluss – auch als sie kaum noch konnte. Er hat beim Schafehüten ab und an Liebespaare im Auto aufgeschreckt, wenn er spaßeshalber an die Scheibe geklopft und ihnen mit dem Finger gedroht hat. Sie hat sich darüber kaputt lachen können. Mein Opa war unglaublich neugierig. Meine Oma bewundernswert weltoffen. Sie hatten am 21. Dezember geheiratet – dem kürzesten Tag mit der längsten Nacht des Jahres.

Ihren Hochzeitstag kannten wir alle auswendig

Sie haben als Teenager im Krieg ihre Eltern verloren* und später beide die Lungentuberkulose überlebt. Sie mussten schon früh erwachsen werden und sind deshalb in ihrem späteren Leben voll aufgegangen. Es war sicher nicht sorgenfrei, aber es kam mir so vor.

Die Welt der Bücher

Mit „Heimat“ verbinde ich daher in erster Linie die Erinnerung an meine Großeltern, mit denen ich viel Zeit verbracht habe. Mein lustiger, aber auch sensibler und ungemein liebevoller Opa, der einen ganz fest in den Arm nehmen konnte, und meine toughe kleine Oma, die sich so viel Wissen selbst angeeignet hat und mit der mich unsere Liebe zu Büchern sehr verbunden hat. Ich wusste schon als Kind, dass ich mal all ihre Bücher erben werde, weil ich ihren „Schatz“ als einzige richtig zu schätzen wusste, und so ist es später auch gekommen. Ich habe heute so viele Bücher, dass ich weiß, dass ich sie gar nicht alle lesen kann, selbst wenn ich bis an mein Lebensende nichts anderes machen würde als lesen. Das ist ein seltsames Gefühl.

Damals und heute: Lesen im Kinderzimmer

In meinem alten Kinderzimmer befindet sich neben meinen eigenen Regalen der riesige Wohnzimmerschrank meiner Großeltern, in dem die Bücher teilweise in drei Reihen hintereinander Rücken an Rücken stehen. Ich könnte Stunden damit zubringen, die Bücher durchzugehen, neu zu sortieren, darin zu stöbern,… Manchmal finde ich darin kleine Zeitungsausschnitte oder Notizen von meiner Oma. Sie hat gern Biografien und geschichtliche Bücher gelesen, Sachbücher über die Königshäuser und „Der Laden“ von Erwin Strittmacher, weil dieser Roman sie an ihre eigene Kindheit in einer Bäckerfamilie erinnert hat. Sie hat sich nach der Wende einen Computer zugelegt, weil sie all ihre geliebten Bücher in einer Datei auflisten und nach Autor, Titel, Erscheinungsdatum, Genre, etc. sortieren wollte. Ich sollte ihr dabei helfen und hätte es auch gern getan. Dazu ist es leider nicht mehr gekommen.

Zu weit weg

Ich bin mit 20 von zu Hause weggezogen und war seither viel zu selten zu Besuch. Ich habe deswegen keine Schuldgefühle, aber es tut mir leid. Das einzige Mal, dass ich meine Oma wirklich tief enttäuscht habe, war, als ich ihr irgendwann während meines Studiums gesagt habe, dass ich danach nicht nach Hause zurückziehen würde. Damals hat sie bitterlich geweint.

Als mein Opa vor elf Jahren sehr krank wurde, wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie weit ich eigentlich von zu Hause weg bin, wenn was passiert. Ich konnte ihn nicht so oft im Krankenhaus besuchen, wie ich wollte, weil ich in München gearbeitet habe. 400 km entfernt.

Es war uns innerhalb der Familie schon früher klar, dass keiner der beiden den anderen lang überleben würde. Dazu haben sich meine Großeltern gegenseitig viel zu sehr gebraucht. Meine Oma war der Kopf der beiden und mein Opa der Halt. Sie haben sich auch deshalb oft bei den Händen gefasst, weil meine Oma aus gesundheitlichen Gründen ziemlich wacklig auf den Beinen war. Aber nicht nur das. Als mein Opa im Krankenhaus lag, hat meine Oma bei all den kleinen täglichen Ritualen gesagt: „Wir werden nie wieder zusammen frühstücken.“, „Er wird nie wieder neben mir in der Küche Zeitung lesen, während ich koche.“,… Mein Opa war die Liebe ihres Lebens, auch wenn sie ihn oft geschimpft hat. Zwei Monate nach seinem Tod ist sie ihm gefolgt. Sie wollte nicht ohne ihn zurückbleiben.

Das Leben danach

Das ist bis heute der größte Verlust, den ich erlebt habe, und ich weiß, dass ich mich glücklich schätzen kann. Glücklich, dass ich mit liebevollen Großeltern aufwachsen konnte. Glücklich, dass meine Eltern noch recht jung und gesund sind. Meine Großeltern haben leider nicht mehr erlebt, dass ich meinen Beruf gewechselt und das Yogastudio eröffnet habe. Mein Opa war ein Gesundheitsfanatiker, der hätte das super gefunden. Und ich glaube, sie wissen es doch. Ich habe seit ihrem Tod oft das Gefühl, dass sie bei mir sind und noch irgendwie auf mich aufpassen. Besonders intensiv war dieses Gefühl mal in Indien, als wir im Morgengrauen jeder für sich nach draußen zum halbstündigen Meditieren geschickt wurden. Da waren sie direkt bei mir. In meiner Vorstellung sind sie wieder zusammen. Zufrieden lächelnd und Händchen haltend.

Meine Mama hat auf ihren Grabstein zwei Hände eingravieren lassen, die sich festhalten. Es haut mich immer wieder um, dass diese beiden Hände tatsächlich genau so aussehen wie die Hände von meinen Großeltern. Ich vermisse sie sehr.

 

*Ich habe während meines Studiums schon einmal über meine Großeltern geschrieben. Damals habe ich meine Oma zu ihren Kriegserinnerungen interviewt. Diesen Artikel habe ich bei der Idee für diesen Beitrag wieder hervorgekramt. Es hat mich sehr berührt, was meine Großeltern in jungen Jahren erleben mussten. Und weil ich finde, dass solche Erfahrungen nicht vergessen werden sollten, stelle ich meinen alten Artikel aus dem Jahre 1995 einfach auch in diesen Blog:

Meine Oma, die Zeitzeugin

Eure Nici