UNSERE LEHRER

Yoga-Anatomie

Zu Gast im YogaKraftwerk: Helga Baumgartner

Warum fallen mir manche Yogahaltungen so schwer? Werde ich jemals tiefer in die eine oder andere Asana kommen? Warum kann ich die volle Kobra immer noch nicht? Und warum komme ich in Upavistha Konasana, der Libelle, nicht mit dem Bauch auf den Boden? Übe ich nicht genug? Oder bin ich ein hoffnungsloser Fall? Was hält mich auf? – Um diese Fragen kreiste Helga Baumgartners dreistündiger Anatomie-Workshop für Yogalehrer und Yogaübende. Ein unglaublich spannendes Thema, das Helga praxisnah und sehr klar aufbereitet hat. Ein paar wichtige Aspekte daraus möchte ich hiermit gern an diejenigen unter meinen Schülern weitergeben, die nicht teilnehmen konnten:

„Es muss nicht sein, dass wir jede Haltung üben können“, betonte Helga. „Es macht uns nicht glücklicher und es macht aus uns keine besseren Yogis.“ Sie verwehrt sich dagegen, Übende anhand ihrer Beweglichkeit zu unterteilen. Nur, weil jemand den Oberkörper auf den Beinen ablegen kann, ist er noch lange nicht fortgeschritten. Und jemand, der in Supta Virasana, dem Sattel, viel Unterstützung im Rücken braucht, ist deshalb kein Anfänger. Manchmal halten uns alte oder neuere Verletzungen davon ab, tiefer in eine Haltung zu kommen. Oder schlicht und einfach: der Körperbau.

Raupe / Paschimottanasana
Sattel / Supta Virasana

Helga unterscheidet zwischen funktionalem Üben und ästhetischem Üben. Wenn wir funktional üben, dann streben wir mit der Haltung ein bestimmtes Ziel an. Wir wollen zum Beispiel Kraft aufbauen oder mehr Dehnung und Weite. Bestenfalls halten wir so altersbedingte Verschleißerscheinungen auf und unseren Körper gesund. Wenn wir ästhetisch orientiert üben, soll es vor allem schön aussehen. Wie auf den Bildern oder Videos, die wir irgendwo gesehen haben. Schlimmstenfalls machen wir so unseren Körper kaputt, weil er nicht dafür gemacht ist. Weil wir uns in Haltungen pressen, die für uns eigentlich nicht möglich sind. Noch nicht. Oder gar nicht.

Ob wir unsere Hüfte so weit öffnen können, dass wir die Beine in einer Außenrotation zu einem Lotussitz verbrezeln können, hängt auch davon ab, wo unser Hüftgelenk genau sitzt. Helgas Lehrer Paul Grilley zeigt auf seiner Website, wie unterschiedlich wir gebaut sind:

Zwei gesunde Becken. Sie machen deutlich, dass zwei Menschen in der gleichen Haltung nie gleich aussehen werden. Durch unseren individuellen Knochenbau haben wir auch einen ganz individuellen Bewegungsspielraum. Allein durch den Sitz der Hüftgelenkspfanne war bei der Person links vermutlich eine deutlich bessere Rotation möglich als bei der Person rechts.

Was also tun, wenn ich in einer Haltung nicht weiterkomme? Ich spüre in mich und finde heraus, woran es liegen könnte. Wenn ich in eine Vorbeuge gehe und es zieht an den Beinrückseiten, dann ist es die Dehnspannung, die mich aufhält. Übe ich in diesem Fall regelmäßig und achtsam weiter, komme ich mit der Zeit wahrscheinlich immer tiefer. Wenn jedoch nichts zieht und ich trotzdem nicht weiterkomme, liegt es an einer Kompression. Dann stößt Gewebe an Gewebe (z.B. ein großer Bauch gegen die Oberschenkel) oder Gewebe an Knochen oder Knochen an Knochen. Hier werden meine Fortschritte in bestimmten Haltungen begrenzt bleiben. Ist das schlimm? Nein. Kann ich trotzdem üben? Aber ja!

Denn wenn mir aufgrund von Verletzungen oder Knochenbau eine Haltung Probleme bereitet, kann ich adaptieren:

  • durch die Verwendung von Hilfsmitteln
  • durch Varianten dieser Haltung (Arme, Beine, Kopf… anders platzieren; erstmal die halbe Haltung einnehmen,…)
  • in eine andere Haltung gehen, die aber die gleiche angestrebte Wirkung hat

Halber Sattel / Eka Pada Supta Virasana ist eher möglich als die volle Haltung

Anatomisches Wissen schützt uns vor Verletzungen und ermöglicht ein sinnvolles und effizientes Üben. Hilfsmittel und Variaten können die Yogapraxis dabei wunderbar bereichern.

Vielen Dank, liebe Helga, dass du dein Wissen mit uns geteilt hast!

Eure Nici

WAS YOGA KANN

Die Relevanz der Körperhaltung

Stell Dich hin. Schließ die Füße. Hebe und spreize die Zehen und leg sie lang wieder ab. Verteile das Gewicht ganz gleichmäßig auf Deinen Füßen. Sauge Deine Kniescheiben ans Gelenk. Bring die Oberschenkel zurück. Länge das Steißbein nach unten. Zieh die Schultern nach hinten unten. Strecke die Arme bis in die Fingerspitzen.

Das ist Tadasana. Die Berghaltung. Eine der wichtigsten Haltungen überhaupt: Fest und aufrecht stehen wie ein Berg. Es ist eine Ausgangsstellung, um gut ausgerichtet in alle Stehpositionen zu kommen. Und es ist die Körperhaltung, die uns geistig und körperlich gesund hält. Besonders in Zeiten, in denen uns das Smartphone ständig in einen Rundrücken mit vorgeschobenem Kopf zieht.

Die schlechte Nachricht ist: Eine schlechte Körperhaltung wird mit zunehmendem Alter schlimmer, weil sich Knochen und Muskeln im Laufe der Jahre der Haltung anpassen. Die gute Nachricht ist: Das liegt in unseren Händen. Wir können meistens Einfluss darauf nehmen, es gar nicht erst soweit kommen lassen oder die negative Entwicklung zumindest aufhalten.

Die Muskeln

Wir unterscheiden zwischen tonischer und phasischer Muskulatur mit unterschiedlichen Funktionen. Lasst uns mal ausprobieren, wie uns die Muskeln in eine schlechte Haltung ziehen können, indem wir diese – kurz – Schritt für Schritt einnehmen:

Zunächst die tonischen Muskeln. Sie halten uns aufrecht. Sie sind kräftig, neigen aber zur Verkürzung:

  • Eine verkürzte Nacken- und Schultermuskulatur zieht die Schultern nach oben und führt zu Nackenverspannungen und Kopfschmerzen.
  • Verkürzte Brustmuskeln ziehen die Schultern zudem nach vorn und runden den Rücken.
  • Verkürzte Rückenstrecker im Lendenwirbelbereich und ein verkürzter Iliopsoas (Lenden-Darmbeinmuskel) kippen das Becken vor in ein sogenanntes Hohlkreuz.

Die phasischen Muskeln sind unsere Bewegungsmuskeln. Sie neigen dazu schwächer zu werden, wenn wir sie vernachlässigen:

  • Der große Gesäßmuskel ermöglicht unter anderem die Streckung im Hüftgelenk und damit den aufrechten Gang. Er trägt außerdem wesentlich dazu bei, dass wir aus dem Sitzen aufstehen können. Bei Tieren, die sich auf vier Beinen durchs Leben bewegen, ist der große Gesäßmuskel nicht so wichtig und auch nicht so ausgeprägt. Aber wir Zweibeiner brauchen ihn schon. Probiert mal aufzustehen, ohne den Po anzuspannen. Was also, wenn die Gesäßmuskeln nicht mehr richtig arbeiten?
  • Die Rückenmuskulatur im Brustwirbelbereich: Wenn sie abschwächt, bekommen wir einen Rundrücken. Insbesondere in Kombination mit verkürzten Brustmuskeln.
  • Auch die Bauchmuskulatur neigt dazu abzuschwächen. Zusammen mit dem eingefallenen Brustkorb kann so die Spannung in der Bauchdecke nicht mehr gehalten werden – der Bauch hängt.

Um dem entgegenzuwirken, sollten wir also die tonischen Muskeln regelmäßig dehnen und die phasischen Muskeln kräftigen.

Die Knochen

Knochen verstärken sich, wenn sie arg beansprucht werden. Eine Schutzfunktion, damit sie nicht kaputt gehen. Aber bei einem Rundrücken hat das eine verheerende Wirkung auf die Wirbelsäule.

Unser Kopf wiegt zwischen vier und sechs Kilo. Wenn wir aufrecht stehen, müssen unsere Wirbelsäule und die Halsmuskeln den Kopf eigentlich nur balancieren. Probiert es wieder aus: Wird der Kopf vorgeschoben, müssen die Halsmuskeln das ganze Gewicht tragen. Die vorderen Halsmuskeln (phasisch) werden mit der Zeit schwach und überdehnt. Die hinteren Halsmuskeln (tonisch) verspannen sich und verkürzen. Das führt zu einer Fehlbelastung der Halswirbelsäule. Um das auszugleichen und den Kopf auf Dauer überhaupt halten zu können, werden die Brustwirbel immer dicker. Der Rundrücken wird so noch runder… Ein Teufelskreis.

Die Psyche

Kummer, Angst und Leistungsdruck verstärken das Problem. Denn bei Stress oder einer Bedrohung ziehen wir automatisch die Schultern hoch und den Kopf in den Nacken und verkrampfen den Rücken. Eine Schutzfunktion, um unseren sensiblen Hals und die Organe im Bauch- und Brustbereich vor feindlichen Angriffen zu bewahren. Dabei ziehen sich die Brust- und Nackenmuskeln tonisch zusammen. Verspannungen und Rückenschmerzen sind vorprogrammiert.

Die größten Risikofaktoren bei der Entstehung von Rückenschmerzen sind Überbelastung und mangelnde Anerkennung am Arbeitsplatz. Stress und ein damit verbundener ungesunder Lebensstil sollen bei bis zu 80 Prozent aller Krankheiten ursächlich oder zumindest beteiligt sein.

Die Psyche wirkt sich also auf die Körperhaltung aus – und umgekehrt. Denn ein eingesunkener Brustkorb zieht uns nachweislich auch mental runter. Wenn wir müde werden oder gestresst sind, verfallen wir in eine Schonhaltung. Die macht uns nur noch müder, motivationslos, dumpf, vielleicht sogar depressiv. Aber das funkioniert zum Glück auch andersherum: Wenn wir uns in solchen Situationen aufrappeln und aufrichten, die Schultern nach hinten unten ziehen und den Brustkorb heben, hellt sich auch unsere Stimmung auf. Wir tanken neue Energie und bekommen wieder einen klaren Kopf. Je aufrechter wir von Haus aus sind, desto leichter wird uns das fallen.

Die Atmung

Ein eingesunkener Brustkorb bewirkt eine flache Atmung. Wirklich tief atmen wir normalerweise nur während einer physischen Anstrengung, weil die Muskeln dann Sauerstoff brauchen. Bei geistiger Arbeit im Sitzen wird von den Muskeln nicht so viel Sauerstoff gebraucht und der Atem fließt flacher. Aber dadurch ermüdet auch das Gehirn.

Mit der richtigen Körperhaltung können wir auch wieder besser atmen. Eine bewusste, tiefe Atmung beruhigt das Nervensystem, wir fühlen uns weniger gestresst und bekommen dann wahrscheinlich auch unsere Aufgabe besser gebacken.

Yoga ist die Antwort

Durch eine regelmäßige Asanapraxis können wir verkürzte (tonische) Muskeln dehnen und phasiche Muskeln auf eine intelligente Weise stärken, ohne dabei die Flexibilität wieder zu verlieren:

  • Stehhaltungen richten uns auf und kräftigen den ganzen Körper
  • Vorwärtsbeugen dehnen die Beinrückseiten und die Strecker im unteren Rücken
  • Rückbeugen dehnen die vordere und kräftigen die rückwärtige Brustmuskulatur und öffnen den Brustkorb,…

Yoga setzt zudem körpereigene Substanzen im Gehirn frei, die stimmungsaufhellend wirken. Der Spiegel von Stresshormonen wie Cortisol im Blut wird nachweislich gesenkt. Pranayama schafft auch im Alltag eine bewusstere Atmung. Meditation beruhigt und erhöht die Konzentration. Außerdem diszipliniert Yoga und zieht oft einen gesünderen Lebensstil nach sich.

Es muss nicht jeder Yoga üben. Aber schränkt Euch nicht selbst in Eurer Freiheit ein. Richtet Euch auf und bleibt gesund.

Eure Nici