YOGA-PHILOSOPHIE

Der Affengott Hanuman

Es war einmal…

…ein junger Königssohn namens Rama, der wegen einer Intrige von seinem Vater in die Verbannung geschickt wird. Seine schöne Frau Sita begleitet ihn. In den Wäldern treffen sie Shurphanaka, ein böses Weib. Shurphanaka verliebt sich in Rama, wird aber von ihm abgewiesen – er ist immerhin verheiratet. Als sie schließlich sogar versucht Sita zu töten, um Rama für sich zu gewinnen, schlägt ihr Rama vor Wut die Nase ab. Jetzt wird die entstellte Shurphanaka erst richtig böse. Sie wendet sich an ihren Bruder, den schrecklichen Dämon Ravana, der 10 Köpfe und 20 Arme hat. Er entführt Sita auf seine Inselfestung nach Lanka (vermutlich das heutige Sri Lanka) und hält sie dort gefangen. Nur mit der selbstlosen Hilfe des Affengottes Hanuman gelingt es Rama, seine Sita aufzuspüren und aus den Fängen des Dämons wieder zu befreien…

Die Geschichte des „Ramayana“ (was übersetzt soviel heißt wie „Ramas Lebenslauf“) ist eines der bedeutendsten indischen Epen. Es ist fast 2000 Jahre alt und umfasst etwa 24.000 Doppelverse über die Taten und Leiden des Helden Rama, insbesondere die Geschichte der Entführung und Wiedergewinnung seiner Frau Sita. Eine dramatische Liebesgeschichte mit einem unschönen Ende. Und ein Lobgesang auf Hanuman, den wahren Held des Epos.

Hanuman ist neben Ganesha der wohl bekannteste und beliebteste der hinduistischen Götter. Sein Geburtstag im März/April ist in Indien ein offizieller Feiertag. Hanuman wird meist mit einem Affengesicht auf einem großen menschlichen Körper dargestellt – ein Körper, der hart ist wie ein Diamant. Der Affengott wird wegen seiner Muskeln auch als Gott der Sportler, Fitnessjünger und Bodybuilder verehrt.

Schutzherr des Pranayama

Hanuman ist der Sohn der schönen, makellosen und tugendhaften Affenfrau Anjana und des Windgottes. Er ist Jesusgleich durch unbefleckte Empfängnis auf die Welt gekommen. Mit Superkräften. In vielen Schriften gilt er gar als eine Inkarnation Shivas. Aufgrund seiner Abstammung vom Windgott wird Hanuman als Schutzherr des Pranayama, der Atemtechniken, betrachtet. Er hat die Herrschaft über das Prana, den lebenswichtigen Atem. Wer Hanuman verehrt, soll daher eine umso wirkungsvollere Pranayama-Praxis erfahren. Aus diesem Grunde wird Hanuman oft fliegend gezeigt.

Hanuman war sich seiner Größe und seiner Kraft lange Zeit nicht bewusst. Viele Mythen handeln von den Jugendstreichen des zutiefst gutmütigen, aber auch etwas unbedachten und tollpatschigen jungen Affen, der sogar die Sonne vom Himmel holen wollte, weil er sie für eine Frucht hielt. Damit zog er den Zorn der Götter auf sich und wurde mit einem Fluch bestraft: nämlich mit der Unwissenheit über seine Superkräfte – bis er auf Rama trifft. Erst wenn er dem Königssohn Rama hingebungsvoll dienen würde, sollten ihm seine übermenschlichen Fähigkeiten wieder bewusst werden und sich sogar noch vervielfachen.

Mut und Hingabe

Hanuman fühlt sich deshalb magisch zu Rama hingezogen, als er ihm im „Ramayana“ erstmals begegnet. Hanuman ist zu diesem Zeitpunkt bereits der tapfere General eines Affenheeres und Rama sucht seine entführte Sita. Der Affe unterstützt ihn dabei und wird zum selbstlosen Diener und treuen Freund Ramas. Bescheiden, mutig, niemals prahlerisch. Er hat die Fähigkeit zu Demut, bedingungsloser Liebe und grenzenloser Loyalität. Einen besseren Freund kann man sich nicht wünschen. Und deshalb wird Hanuman so verehrt. Der Affengott wird oft mit aufgerissener Brust dargestellt (siehe Titelbild von der riesigen Hanuman-Statur in Rishikesh). Wir können in sein Herz sehen, das erfüllt ist von dem Königspaar Rama und Sita. In jedem Rama-Tempel gibt es auch eine Statur oder ein Bildnis von Hanuman. Rama und Hanuman gehören zusammen.

Hanumans Superkräfte

Hanuman ist in Indien ein Superheld, der mit Hilfe seiner übernatürlichen Kräfte viele Wunder vollbringen kann. Er ist bekannt für seine großen Sprünge: Um die entführte Sita aufzuspüren, überwindet er die Meerenge zwischen Indien und (Sri) Lanka (=54,8 km an der engsten Stelle!) mit einem einzigen gigantischen Sprung. In meiner Ausgabe des „Ramayana“ (Diederichs Gelbe Reihe) erstreckt sich allein die heroische Beschreibung des Wahnsinns-Sprunges über 10 Seiten…

Hanuman kann zudem seinen Körper zu einer ungeheuren Größe ausdehnen oder auf die Größe eines Daumennagels schrumpfen lassen: In Lanka angekommen überbringt er dem Dämon Ravana die Botschaft, dass er Sita freilassen und sich bei Rama entschuldigen soll. Ravana denkt aber gar nicht daran, sondern lässt Hanuman stattdessen in Fesseln legen, den Affenschwanz in Öl und Ghee (Butterschmalz) wickeln und anzünden, um ihn zu entehren. Hanuman macht sich daraufhin erst ganz klein, um aus den Fesseln zu schlüpfen und dann riesig groß, um mit seinem brennenden Schwanz ganz Lanka anzuzünden. (Übrigens: Bei der anschließenden Abkühlung im Meer zeugt er versehentlich ein Kind. Denn als ein Tropfen seines Schweißes einem Fisch ins Maul fällt, bringt der daraufhin Hanumans Sohn Makar Dhuaj zur Welt. So schnell kann’s gehen…)

Hanuman kann Berge versetzen: Um Ramas Bruder zu retten, der sich beim Kampf gegen den Dämon lebensgefährlich verletzt hat, soll Hanuman eine bestimmte Heilpflanze von einem Himalaya-Gipfel besorgen. Der Affengott fliegt übers Meer in den Himalaya – und vergisst, wie die Pflanze aussieht, die er holen soll. Weil die Zeit eilt, vergrößert er seinen Körper um ein Vielfaches und nimmt gleich den ganzen Gipfel des Berges mit der lebensspendenden Pflanze mit.

Fliegen wie Hanuman über den Himalaya

Hanuman ist unsterblich. Als Rama stirbt, will Hanuman ihm folgen, aber Rama bittet ihn auf der Erde zu bleiben, um hingebungsvollen Menschen zu dienen. Er ist daher einer der insgesamt 7 unsterblichen Wesen in erdnahen Ebenen, die für Menschen erreichbar sind. Es soll besonders leicht sein, die unmittelbare Gegenwart dieser Götter zu erfahren.

Hanuman-Yogahaltungen

Manche Asanas sind nach Hanuman benannt:

  • Hanumanasana
    • Der Spagat. Er symbolisiert die weiten Sprünge Hanumans und seine Fähigkeit, Grenzen zu überwinden und über sich hinauszuwachsen durch Ausweitung und Hingabe.
    • Der Spagat war offenbar auch für BKS Iyengar eine ganz besondere Haltung: „Diese schöne Stellung hilft Ischias und andere Schäden in den Beinen zu heilen“, schreibt er in „Licht auf Yoga“ und widmet Hanumans Geschichte einen großen Absatz.

BKS Iyengar in Hanumanasana (Quelle: „Licht auf Yoga“, Verlag O.W. Barth)

  • Anjaneyasana (Anjaneya = Sohn von Anjana, der Affenfrau)
    • Tiefer Ausfallschritt mit dem Knie am Boden. Wird auch Halbmond genannt oder Low Lunge.
    • Diese Haltung symbolisiert den Flug zum Himalaya, um die Heilpflanze zu besorgen.

Swami Vishnudevananda in Anjaneyasana (Quelle: „Das große illustrierte Yogabuch“, Verlag Aurum)

Der Gedanke an Hanuman hilft mir zudem in vielen anderen Yogahaltungen, seit ich 2014 den großartigen Iyengar Yogi Birjoo Mehta auf einer Yoga-Convention erlebt habe. Wir sollten uns damals vorstellen, dass wir uns wie Hanuman den Brustkorb aufreißen, um unseren Brustraum in den Asanas zu weiten.

Es gibt übrigens sehr schöne Lieder und Mantren über Hanuman, zum Beispiel von Krishna Das, einem großen Hanuman-Verehrer:

https://www.youtube.com/watch?v=Lv7lVaTYgGI

Eure Nici