Yoga im Tuch ist eine sehr junge Stilrichtung: Vor knapp 20 Jahren baute der Akrobat und Showtänzer Christopher Calvin Harrison ein Trapeztuch in seine luftakrobatischen Inszenierungen ein. Später setzte er das Tuch auch zum Dehnen und Entspannen beim Training ein und hing es für diese Zwecke tiefer, auf die Höhe einer Ballettstange. Daraus entwickelte sich das AntiGravity Konzept. Die Tänzerin Michelle Dortignac aus Colorado ließ klassische Hatha Yoga Übungen in das Training mit dem Tuch einfließen und so entstand schließlich Aerial Yoga, also Luft-Yoga. Ab 2009 ließen sich die ersten deutschen Yogalehrer in Amerika für die Übungspraxis mit dem Tuch fortbilden und brachten diesen spielerischen Yogastil zu uns. Bei einer von ihnen – Dhanya Daniela Meggers – habe ich 2014 meine Aerial Yoga Ausbildung gemacht. Inzwischen bildet Dhanya auch einmal im Jahr im YogaKraftwerk Aerial Yogalehrer aus und fort.
Seit der Eröffnung des YogaKraftwerks vor gut drei Jahren ist Aerial Yoga ein wichtiger Bestandteil meines Studios. Nicht zuletzt wegen der schönen, großen, bunten Tücher finden meine Schüler aus einem ungewöhnlich großen Einzugsbereich ins YogaKraftwerk. Manche wollen es einfach nur mal ausprobieren, andere können gar nicht genug davon bekommen und yogeln zweimal die Woche durchs Tuch und immer mehr buchen eine Aerial Yoga Stunde für einen privaten Event mit Freunden oder Kollegen.
Diese Fragen treten vor dem ersten Besuch immer wieder auf:
1. Bin ich zu dick für das Tuch?
Nein. Das geht gar nicht. Weil ich in meinen Räumlichkeiten keine Haken in der Decke anbringen kann, hat mein Vater – ein Bauingenieur – extra eine stabile Balkenkonstruktion errichtet, die die Tücher trägt. Die 2,80 m breiten und 3,70 m langen Tücher werden mit O-Schlingen, Karabinern und Daisy Chains aus dem Kletterbereich zusammengehalten und an den Balken aufgehängt. Das Tuch besteht aus Lycra / Tricot – eine sehr strapazierfähige Kunstfaser, die in eine Richtung dehnbar ist. Es trägt bis zu 500 kg. Wir haben sogar schon Partner Aerial Yoga darin veranstaltet – ein sehr lustiger Workshop mit teilweise zwei Personen in einem Tuch.
Übergewichtige Yogis haben es im Tuch übrigens oftmals leichter als beim klassischen Yoga am Boden. Man kann Gewicht an das Tuch abgeben, es trägt, hält und schützt einen während der Yogastunde. Und noch dazu legen sich die farbenfrohen Tücher schmeichelhaft um jede Hüfte. Das hebt die Stimmung.
2. Ich bin steif wie ein Brett. Kann ich trotzdem mitmachen?
Aber ja! Das höre ich übrigens auch beim klassischen Yoga oft: „Ich würde ja gerne mal Yoga ausprobieren, aber ich bin zu steif.“ Das ist totaler Quatsch. Wir üben Yoga, UM flexibler, geschmeidiger, stärker, konzentrierter, ausgeglichener zu werden, nicht weil wir all das schon sind. Genau wie beim Yoga am Boden werden beim Aerial Yoga die Muskeln gedehnt und gekräftigt, die Balance wird geschult – oft sogar mehr als bei den klassischen Stilen. Mein Anspruch dabei ist, dass Ihr so sehr auf Euch selbst konzentriert seid, dass Ihr gar keine Zeit findet, um nach links oder rechts zu sehen und Euch mit anderen zu vergleichen. Der Rest kommt mit der Übung: Wer regelmäßig Aerial Yoga praktiziert, wird beweglicher. Wer übt, wird besser. Wie bei allem.
3. Mir wird schon im Auto schlecht. Macht Aerial Yoga da Sinn?
Ausprobieren. Ich kann auch nicht im Auto lesen, aber stundenlang kopfüber im Tuch baumeln und schaukeln. Bei anderen ist es vielleicht umgekehrt. Kurz: Ja, es kann einem im Tuch schlecht werden. Das passiert auch immer wieder. Deswegen appelliere ich an jeden neuen Schüler, die ersten Anzeichen für einen flauen Magen nicht zu ignorieren, sondern die Übungen zu unterbrechen, wenn nötig. Lieber mal zwei Minuten aussetzen und zur Ruhe kommen, als die Zähne zusammenzubeißen und sich womöglich die schöne Endentspannung zu versauen, weil man stattdessen gegen Schwindel ankämpft. Ich bin außerdem immer nur wenige Schritte von Euch entfernt und kann jeden rasch anhalten, der für seine Verhältnisse zu doll ins Schaukeln geraten ist.
Und es ist nicht jeder Tag gleich. Stress, Menstruation, Wetterfühligkeit, Erschöpfung – all das kann das Üben mit dem Tuch beeinflussen. Es gibt gute Tage und sensible Tage. Aber man lernt mit der Zeit immer besser mit dem Tuch umzugehen und seine persönlichen Grenzen nicht zu weit auszureizen.
4. Was muss ich anziehen und mitbringen?
Kleidung, in der Du Dich gut bewegen kannst. Ohne Reißverschlüsse und spitzen Schmuck, damit nichts am Tuch hängen bleibt. Oft wird dabei der versteckte Reißverschluss hinten am Kreuzbein völlig vergessen. Bei Laufhosen zum Beispiel. Diese sind aber besonders fies zum Tuch. Zwar würde das Tuch nicht sofort zerreißen, aber es können sich kleine Löcher bilden, die mit der Zeit größer werden. Und wer will schon in einem Tuch mit Loch sitzen?
Ich empfehle außerdem Oberteile, die in Umkehrhaltungen nicht über den Kopf rutschen. Also eher enganliegend und nicht zu weit ausgeschnitten. Ihr werdet Euch kopfüber nicht wohlfühlen, wenn Euch der Busen aus dem BH fällt…
Bei mir wird Yoga grundsätzlich barfuß geübt, denn die Füße arbeiten schließlich mit. Und auch aus Sicherheitsgründen, damit Ihr nicht abrutscht. Für die Entspannungsphasen am Anfang und am Ende könnt Ihr aber gern Socken anziehen.
Mehr müsst Ihr nicht mitbringen. Außer ein Wasser vielleicht, wenn Ihr etwas zum Trinken braucht.
5. Wie lange darf ich vorher nichts essen?
Dazu schrieb BKS Iyengar in den sechziger Jahren in „Licht auf Yoga“: „Asanas sollten am besten mit leerem Magen ausgeführt werden. Ist dies schwierig, kann man zuvor eine Tasse Tee, Kaffee, Kakao oder Milch trinken. Man kann die Asanas auch ohne Beschwerden eine Stunde nach einer leichten Mahlzeit ausführen. Nach einer schweren Mahlzeit sollten zumindest vier Stunden vergehen, bevor man mit den Übungen beginnt.“ Das würde ich auch heute noch und auch für Aerial Yoga so unterschreiben.
6. Darf jeder beim Aerial Yoga mitmachen?
Es macht nicht für jeden Sinn, weil für manche Leute ein großer Teil der Übungen nicht in Frage kommen würde: Umkehrhaltungen sind ein elementarer Bestandteil von Aerial Yoga, sollten aber bei Bluthochdruck oder hohem Augeninnendruck nicht ausgeführt werden. Auch während der Schwangerschaft ist das Tuch nicht geeignet.
7. Was ist anders als beim klassischen Yoga?
Der Baum – im Tuch und am Boden
Ich unterrichte neben Aerial Yoga noch den traditionellen Iyengar Yoga. Dabei benutzen wir viele Hilfsmittel. Das Tuch ist für mich nichts anderes: ein Hilfsmittel, das mich tiefer oder überhaupt in eine Haltung bringt. Iyengar Yoga ist ein vergleichsweise strenger Yogastil mit Fokus auf der korrekten Ausrichtung. Aerial Yoga ist spielerischer, hat mehr Leichtigkeit – trotzdem vergesse ich nicht plötzlich alle Ausrichtungsprinzipien, die ich gelernt habe, wenn ich eine Sequenz im Tuch anleite.
Beim Aerial Yoga über das Tuch zu springen und zu flippen oder über Kopf zu hängen, erfordert anfangs etwas Mut – aber auch beim Iyengar Yoga hängen wir manchmal kopfüber im Seil oder über dem Stuhl. Zunächst ist es einfach nur aufregend, später kann man es auch genießen.
Manche Haltungen, wie der Handstand, sind im Tuch einfacher. Andere sind fordernder, weil man gleichzeitig die Balance halten muss. Es gibt Haltungen, die sind nur im Tuch möglich. Und Haltungen, für die man kein Tuch gebrauchen kann.
Die Fledermaus – geht nur im Tuch
8. Ist schon mal jemand aus dem Tuch gefallen?
Ja, äußerst selten, aber das kann passieren, wenn man sich nicht richtig festhält. Es waren aber nie die schwierigen Haltungen. Da sind die Teilnehmer so konzentriert, dass sie genau zuhören. Es passiert eher, wenn die Anspannung – und damit auch die Konzentration – wieder nachlassen. Aber die Tücher hängen nicht mal einen Meter über dem Boden. Der Weg nach unten ist also nicht so weit, wenn man mal rausrutscht. Verletzt hat sich noch niemand. Ich weiß nur von ein paar blauen Flecken ab und zu oder roten Streifen an Stellen, an denen das Tuch gedrückt hat.
9. Machen auch Männer Aerial Yoga?
Ja! Es dominieren die Frauen, wie auch bei den anderen Yogastilen. Aber einige meiner männlichen Schüler kommen nun schon seit Jahren sehr regelmäßig zum Aerial Yoga. Manche zusammen mit ihrer Frau, andere allein. Einige waren sogar beim Aerial Dance.
10. Wie läuft so eine Aerial Yoga Stunde ab?
Wir beginnen mit Pranayama, also Atemübungen, in einer aufrechten Sitzhaltung im Tuch. Dann wärmen wir den Körper mit Übungen auf, die uns mit dem Tuch vertraut machen. Beim Aerial Yoga gibt es eine überschaubare Reihe von Grundpositionen mit jeweils unzähligen Variationsmöglichkeiten. Nach jeder Umkehrhaltung baue ich erdende Übungen mit Bodenkontakt ein, damit der Körper wieder zur Ruhe kommen kann. Die Sequenz wechselt jede Woche, trotzdem ist keine Stunde gleich. Denn die Atmosphäre, die jeweilige Stimmung, der Schwierigkeitsgrad hängen sehr von der Anzahl und der Mischung der Teilnehmer ab. Grundsätzlich ist jede Stunde auch für absolute Anfänger geeignet. Es ist immer wieder erstaunlich, wie weit man schon in der ersten Stunde gehen kann. Die Endentspannung im Tuch ist extra lang und besonders schön.
In der letzten Woche eines jeden Monats üben wir regenerativ. Da geht es sehr ruhig und entspannt zu – wobei es auch ziemlich anstrengend werden kann, über mehrere Minuten in einer Dehnungshaltung zu verweilen.
Etwa alle zwei Monate gibt es einen besonderen und sehr beliebten Workshop Freitagabends: Aerial Yoga Deep. Hier hängen die Tücher nur etwa 15 cm über dem Boden. Wer Angst hat, dass ihm beim Aerial Yoga schlecht werden könnte, aber es gern versuchen würde, sollte diesen Workshop in Erwägung ziehen oder in die regenerativen Kurse am Monatsende kommen.
Ich kann nur jedem empfehlen, Aerial Yoga mal auszuprobieren. Vielleicht wirst Du dabei feststellen, dass es nicht die richtige Yogaart für Dich ist. Aber vielleicht geht Dir auch wie mir das Herz auf bei diesem ganz besonderen Erlebnis und Du möchtest es nicht mehr missen.
Unsere Kurse, Workshops und Ausbildungstermine findet Ihr unter http://www.yogakraftwerk.de.
Eure Nici